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Luftige Höhe im Keller

Da stehe ich nun also. Auf einer zwanzig Zentimeter schmalen Planke, unter der es zig Meter in eine Straßenschlucht hinabgeht. Unten düsen Autos hin und her, und ich habe nur dieses schmale Brett, um weit oben über dem Straßenverkehr auf die andere Seite zu kommen. Vorsichtig taste ich mich mit den Füßen voran, doch es hilft nichts: Ich gerate ins Straucheln und falle – die vollen vier Zentimeter, die die Planke dick ist. Mehr nicht.

Etwas durcheinander ziehe ich eine Apparatur von meinem Kopf und befinde mich, ein wenig schwankend, wieder (oder immer noch?) in einem geschlossenen Raum im Institut für Informatik der Uni Münster. Diese Apparatur ist eine Virtuelle-Realität-Brille, wie sie nun bald auch für den Heimgebrauch in den Handel kommt – erweitert um ein skurriles Holzgestell, an dessen Enden kleine Bällchen befestigt sind: Tracking-Sensoren für die Infrarot-Kameras, die in dem leeren, großen Labor der Arbeitsgruppe Visualisierung und Computergrafik ringsum an den Wänden hängen. In der Mitte des Raums auf dem Fußboden liegt etwas verloren die Planke, auf der ich eben noch ziemlich wackelig zu balancieren versucht habe. Es ist tatsächlich nur ein ganz einfaches Stück Holz, das unter normalen Umständen eher den Eindruck erweckt hätte, nicht dorthin zu gehören auf diesen ansonsten leer geräumten Teppichboden ohne Straßenschlucht, ohne Autos, ohne Grund für Schwindelgefühle oder Höhenangst.

Eine auf Virtueller Realität (VR) basierende Hilfe zu bieten, um Höhenangst zu therapieren, ist eins der faszinierenden Ziele der studentischen Projektgruppen im Keller des Informatik-Instituts. Wir hatten schon von so etwas gehört: VR-Umgebungen zur Therapie bestimmter Phobien vor Höhen, Spinnen usw. Selbst erlebt hatten wir es bis heute aber noch nicht. Doch funktioniert das wirklich?

Obwohl ich nicht unter voll ausgewachsener Höhenangst leide, wird mir mitunter ziemlich mulmig, wenn ich den festen Erdboden unter den Füßen verliere und mich meterweise in die Höhe bewege. Schon ein Riesenrad kann so zur Mutprobe werden. Und obwohl die Simulation nicht unbedingt fotorealistisch aussieht und man selbstverständlich weiß, dass man sich in keinerlei Gefahr befindet, ist es doch dasselbe mulmige Gefühl im Magen, mit dem ich eben auf dem schmucklosen Brett stand. Ich kann mir nun sehr gut vorstellen, dass man solche Programme wirklich gut nutzen kann, um sie in der psychiatrischen Medizin einzusetzen. Alle Achtung!

Virtuelle Realität ist übrigens alles andere als ein neuer Begriff in der Informationstechnologie. Ich selbst könnte mich nicht daran erinnern, dass zu meinen Lebzeiten VR jemals nicht als die nächste große Sache der Branche gehandelt wurde. Dr. Dimitar Valkov vom Institut für Informatik erklärt uns, die zeitliche Euphorie-Kurve über Fortschritte im VR-Bereich verlaufe nun einmal sehr wellenartig. Mit jedem technologischen Fortschritt, der VR-Forschern wie ihm neue Möglichkeiten biete, sei der Jubel auch in der Öffentlichkeit groß. Stößt man hingegen wieder an Grenzen der Umsetzbarkeit, ebbe die Euphorie aber wieder ab und die Leute würden abwinken und die VR wieder zur weitgehend nutzlosen technischen Spielerei erklären. Insgesamt sieht Valkov jedoch einen positiven Trend in der öffentlichen Wahrnehmung seines Spezialgebiets. Die kommerzielle Markteinführung von – zunächst vor allem im Bereich der Videospiele angesiedelten – VR-Geräten mag dazu ihr Übriges tun.

Valkov und seine Studierenden haben über Videospiele und auch Therapieprogramme hinaus aber noch viele weitere Anwendungsmöglichkeiten im Auge. Wir sind gespannt und können uns das sehr gut vorstellen, schließlich haben wir heute auch nur einen Teil der Forschungsbereiche und Gerätschaften zu sehen bekommen, mit denen sich die Informatiker der Uni Münster beschäftigen. Wie man so schön sagt: Die Zukunft hat begonnen! Für mich persönlich auf einer schmalen Planke auf dem Fußboden eines leeren Kellerraums.

Damit unser Besuch bei den VR-Profis für Euch nicht rein virtuell bleibt, sitzen wir gerade an einem entsprechenden Video-Beitrag, den Ihr schnellstmöglich auf unserem weit/winkel-Kanal bei YouTube zu sehen bekommen werdet!

Jakob Töbelmann

Langjähriger Münsteraner friesischen Geblüts. Auszubildender zum Mediengestalter Bild & Ton im Bürgerhaus Bennohaus.

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