Das Thema der Mai-Ausgabe unserer Sendung weit/winkel ist Design. Im Begleittext zur Sendung habe ich geschrieben, dass es während der Vorbereitung und der Durchführung der Sendung für uns sehr schwierig gewesen ist, die Grenzen des Themas zu definieren. Design steckt schließlich in allem, was wir produzieren und uns ausdenken. So hatten wir streckenweise das Gefühl, dem Thema nicht gerecht werden zu können. Was mir persönlich aber eigentlich ziemlich wichtig war, da ich seit einiger Zeit mit nahezu religiösem Eifer einen amerikanischen Podcast zu genau diesem Themenkomplex höre und bewundere. Wobei mich das Thema Design als solches bis dahin prinzipiell eher kalt gelassen hatte. Aber dieser Podcast hat meine Einstellung und auch ein bisschen die Art, wie ich meine Umwelt wahrnehme, verändert. Deswegen möchte ich Euch in diesem Review sehr gern 99% Invisible vorstellen und empfehlen!
Podcast steht im deutschsprachigen Raum fast ausschließlich für ein Erfolgsrezept: Zwei oder mehr Leute sitzen zusammen und reden über ein oder mehrere vorab gewählte Themen. Oft wird abgeschweift und erzählt, manchmal kommt noch ein Gast dazu. Es werden Witze gemacht, es werden Argumente ausgetauscht, es wird durch Unterhaltung unterhalten. Es ist fest, aber gleichzeitig flauschig. Kein schlechtes Prinzip, und allen sei in diesem Zusammenhang natürlich auch unser hauseigener Prakticast empfohlen.
Ich finde aber: Podcast kann mehr. Weil das Medium Audio mehr kann. Halten sich bei den hierzulande beliebten Podcast-Formaten journalistische Tiefe und technischer Aufwand meist in Grenzen, hat sich in den Vereinigten Staaten schon seit geraumer Zeit eine zusätzliche Art des Podcasts entwickelt, die sich am Reportagestil des öffentlich-rechtlichen Radios und des Bürgerfunks orientiert, dabei aber meist modern und dem digitalen Medium angemessen daherkommt.
Der Radiomacher Roman Mars startete 2010, zunächst noch als echte Radiosendung konzipiert, bei einem Lokalsender in San Francisco sein Format 99% Invisible als Ein-Mann-Projekt und absolute Low-Budget-Produktion. Mit dem Titel wollte er verdeutlichen, dass wir 99 Prozent unserer alltäglichen Umwelt gar nicht wahrnehmen, da sie uns selbstverständlich erscheint. Doch hinter allen Dingen, die uns umgeben, steckt ein Design, und jedes Design hat einen Hintergrund, eine Geschichte. Das bedeutet aber auch, dass es bei 99% Invisible gar nicht um die wirklich großen Dinge gehen muss, sondern oft gerade um die kleinen, wenig beachteten Details, hinter denen eben trotzdem bewusste Design-Entscheidungen stecken. In der ersten Episode geht es z.B. nicht um mehr als die Verlegung des Besucherschalters in der größten Bücherei in San Francisco. Durch die Größe des Innenraums war viel Hall entstanden, Besucher und Mitarbeiter konnten sich schlecht verstehen und sprachen daher lauter, was in einer Bücherei natürlich nicht unbedingt ideal ist. Die Lösung des Problems: Verlegung des Besucherschalters um fünf Meter unter eine Zwischenetage, wo der Schall gefangen bleibt. So einfach, so genial. Doch auch darauf muss man erst mal kommen, wofür Fachleute (in diesem Fall ein Akustik-Designer) gebraucht werden. So ging der Podcast los, nach und nach wurden die Geschichten aber auch schon mal größer und umfassender. Oft geht es um spezielle Gebäude, Ideen, Siedlungsformen oder historische Sachverhalte.
Etwas Besonderes bei 99% Invisible ist die Form: Über weite Strecken einer Episode hören wir die Protagonisten ihre Geschichten selbst erzählen, und wir befinden uns nicht im Studio, sondern an den Orten des Geschehens — außer wenn Roman Mars Teile der Geschichten zusammenfasst, ergänzende Infos gibt oder kleine Witze einstreut. Das Erzählte ist zum Teil sehr persönlich, wenn es z.B. um die Bewohner einer chilenischen Armensiedlung geht, denen ihre Regierung im Sinne eines umstrittenen Designs nach einem starken Erdbeben hunderte halbe(!) Häuser zur Verfügung stellte (Link). Oder um die letzten Einwohner einer Planstadt in North Carolina, die in der Bürgerrechtsbewegung als eine Art schwarzes Utopia errichtet worden war und nun langsam ausstirbt (Link). Andere Episoden sind lustig (z.B. die Geschichte über “Busta Rhymes Island”, Link) oder nachdenklich, zumindest aber immer informativ, interessant und horizonterweiternd. So wird Design zu etwas sehr Menschlichem.
Das Ein-Mann-Projekt ist schon lange keins mehr: 99% Invisible ist sehr gut angekommen, und mittels Crowdfunding, Unterstützung von Siftungen und Sponsoring ist es Roman Mars gelungen, nun eine achtköpfige Redaktion zu leiten und bis jetzt (Mai 2017) ganze 260 Folgen zu produzieren. Der Produktionsaufwand ist dabei deutlich gestiegen: Waren die ersten Folgen gerade einmal vier bis zehn Minuten lang, so übertreffen sie nun teilweise eine halbe Stunde. Technisch befindet sich die Sendung nach bescheidenen (trotzdem guten) Anfängen mittlerweile auf höchstem Niveau. Manchmal werden auch Produktionen kleinerer Radiomacher mit verwandten Themen gefeaturet, und zusammen mit einigen anderen Produzenten hat Roman Mars eine Art Indie-Label für Podcasts gegründet, dem derzeit 16 Formate angehören. 99% Invisible ist in den USA alles andere als ein Geheimtipp: Hunderttausende Downloads und regelmäßiges Erscheinen auf breitenwirksamen Listen der besten Podcasts (z.B. hier) sprechen eine deutliche Sprache. Überhaupt hat sich Roman Mars zum Star einer kleinen, nerdigen Subkultur entwickelt, die ihm in bescheidenem Maße Berühmtheit eingebracht hat. Bisheriger Höhepunkt dieser Prominenz ist wahrscheinlich sein unterhaltsamer TED Talk über Flaggendesign (eins meiner Nerd-Lieblingsthemen!!) gewesen:
Also, sollte es noch nicht deutlich genug geworden sein: Ich lege Euch hiermit den Podcast 99% Invisible sehr ans Herz. Selbst Leute, die mit Design und verwandten Themen nicht so viel anfangen können, wollen nach einiger Zeit immer weiterhören. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man einigermaßen gutes Englisch spricht, da hier eben schon ziemlich in die Tiefe gegangen wird und die etwas unkonventionelle Struktur (Ihr merkt’s, wenn Ihr’s hört) wahrscheinlich ein wenig verwirrend sein kann.
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