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Die aktuelle Situation der Flüchtenden – Ein vergessenes Problem

April 2020: Die ganze Welt redet nur noch über das aktuell kursierende Coronavirus. Ein wichtiges Thema, das dabei immer mehr in den Hintergrund rückt: Geflüchtete Menschen und deren Situation in den Lagern oder an den Grenzen.

Da die Medien nur noch über Corona berichten und Demonstrationen nur stark erschwert möglich sind, hat dieses wichtige Thema derzeit nur wenig Fläche, um diskutiert zu werden. Um wichtige Fragen im Zusammenhang mit diesem Thema zu klären und um herauszufinden, was man tun kann, um zu helfen, haben wir mit Julia von der Seebrücke Münster gesprochen.

Wodurch ist das Thema der Geflüchteten wieder so aktuell geworden?

Ich weiß nicht, ob es wirklich aktuell ist. Ich habe eher das Gefühl, dass es aus den Medien verschwindet, weil alle nur über Corona reden und alle sehr auf ihre nähere Umgebung beschränkt sind.
Die Leute fordern Solidarität, aber nur mit den Nachbar*innen und mit den Menschen, die in Deutschland wohnen.

Woher kommen die Geflüchteten und wovor fliehen sie?

Sie flüchten aus mehreren Gründen. Vor allem erst einmal, weil sie dort, wo sie leben, Angst haben. Es herrscht zum Beispiel oft Krieg und es gibt auch Menschen, die vor den Folgen des Klimawandels flüchten. Es gibt sehr viele Fluchtursachen. Aber die Menschen flüchten auf jeden Fall, weil sie dort, wo sie gelebt haben, nicht mehr leben können.

Die meisten Menschen, die jetzt in Moria leben, oder generell die meisten Menschen, die über das Mittelmeer flüchten, kommen aus Afghanistan und aus Syrien. Manche kommen auch aus anderen Ländern, aber Afghanistan und Syrien sind die beiden Länder, aus denen die meisten Menschen kommen. Und das sind auf keinen Fall sichere Herkunftsländer.

Außerdem sind 40% der Menschen, die in Moria leben, Kinder.

 

Demonstration zum Thema “Solidarity from sea to city”.

Es gab ja letztens eine große Kontroverse darüber, wie griechische Grenzschutzbeamt*innen mit der Situation umgehen. Warum glaubst du, haben sie so reagiert?

Das war mal wieder eine Situation, bei der es eskaliert ist. Aber auch in den Jahren davor, ging es den Grenzbeamt*innen in Griechenland oder auch anderen Küstenwachen oder Organisationen, die für den Grenzschutz eingesetzt sind, nicht um das Retten der Menschen. Es geht denen um die Aufrechterhaltung der Grenzen. Und dieses Konzept basiert ganz einfach auf Abschreckung.

Sowohl beim Retten auf dem Mittelmeer, als auch der Zustand der Camps. Sie möchten zeigen, dass es gefährlich ist, über das Mittelmeer zu flüchten und dass das Leben in Moria so unmenschlich ist, dass die Menschen am besten gar nicht erst herkommen sollen. Aber es kommen trotzdem immer weiter Menschen, weil es da, wo sie herkommen, noch gefährlicher ist.

Im Zuge dieser Abschreckung werden Hilferufe auf dem Mittelmeer ignoriert und zivile Seenotrettung wird von der Küstenwache sabotiert. Das sind keine Unfälle oder Einzelfälle – das hat alles System, das wird gewollt und von der EU auch finanziert.

Was müsste eigentlich geschehen, damit sich die Situation verbessert?

Die EU vereinbart momentan schmutzige Deals mit Drittstaaten, wie der Türkei, um Geflüchtete dort einzusperren. Und es gibt keine EU-Seenotrettung, sondern die EU finanziert die brutalen Grenzschutzagenturen, wie die Küstenwache oder Frontex. Seenotrettung wird sogar aktiv von Küstenwachen sabotiert. Das muss aufhören, damit das passieren kann, was passieren sollte, nämlich das Schaffen sicherer Fluchtwege. Ländergrenzen dürfen nicht entscheiden, ob ein Mensch überleben kann oder nicht. Vor allem müssen jetzt ganz akut die Camps evakuiert werden.

 

Wenn man sich jetzt noch vorstellt, dass da das Coronavirus ausbrechen sollte, wird es sich sehr schnell verbreiten und es wird eine humanitäre Katastrophe geben.

 

Ist die aktuelle Situation mit der von 2015 vergleichbar, bei der ja viele von einer “Flüchtlingskrise” sprachen? 

Es wird ja immer gesagt, dass sich das, was 2015 passiert ist, nicht wiederholen darf. Und tatsächlich sind ja auch die Zahlen der Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, gesunken. Aber was heißt das denn schon? Weltweit steigen die Zahlen immer weiter und das zeigt, dass diese Abschreckungspolitik nicht funktioniert.

Generell hat sich aber die Situation für die Schutzsuchenden extrem verschlechtert. Wenn wir uns jetzt nochmal Moria als Beispiel angucken: Das ist ein Camp, das ursprünglich für 3000 Menschen als Zwischenstation gebaut wurde und auch dementsprechend ausgestattet ist.

Im Jahr 2016 lebten dort dann schon 6000 Menschen, also das Doppelte. Und im Jahr 2020 leben dort nun schon 22.000 Menschen. Das ist ein sehr menschenunwürdiges Leben. Die Menschen wohnen dort in Zelten. Auf drei Quadratmetern leben fünf Menschen. Sie teilen sich mit 167 Menschen eine Toilette und nun wurde auch noch die Versorgung mit fließendem Wasser eingestellt. Hygiene ist also faktisch nicht möglich. Es gibt Krankheiten, wie zum Beispiel Krätze, es gibt Gewalt und hohe psychische Belastungen. Und das wird alles immer schlimmer.

Wenn man sich jetzt noch vorstellt, dass da das Coronavirus ausbrechen sollte, wird es sich sehr schnell verbreiten und es wird eine humanitäre Katastrophe geben. Also kann man eher sagen, dass sich die Situation immer weiter verschlechtert.

 

Es gibt eine Aufstockung des Grenzschutzes und es werden Menschenrechte verletzt, die die EU eigentlich mittragen sollte.

 

Was unternimmt die EU, um den Geflüchteten zu helfen?

Die Frage sollte eigentlich eher lauten, was die EU tut, um die Stellung eines Asylantrags von Geflüchteten zu verhindern. Die EU als Friedensnobelpreis-Trägerin brüstet sich damit, Milliardenzahlungen für die Hilfe der Geflüchteten zu machen. Es fließen auch ganz viele Gelder, das stimmt schon. Jedoch sind die Zwecke, für die diese Gelder benutzt werden, sehr, sehr fragwürdig.

Viele der Gelder fließen nämlich in die Küstenwachen, die ja offiziell Seenotrettung betreiben sollten. Doch die libysche Küstenwache zum Beispiel nimmt illegale Zurückweisungen vor und bei den anderen Küstenwachen sieht das ähnlich aus. Auch der Ausbau von Lagern außerhalb der EU wird finanziert. Diese Lager sind extra am Rande der EU oder außerhalb der EU, damit die Menschen erst gar nicht reinkommen. Diese Menschen werden also auf Inseln, in Libyen oder in der Türkei eingesperrt.

Es gibt eine Aufstockung des Grenzschutzes und es werden Menschenrechte verletzt, die die EU eigentlich mittragen sollte. Es gibt Verurteilungen im Schnellverfahren und Menschen werden wegen illegaler Einreise verhaftet. Das ist eine Art der Verhaftung, die eine illegale Zurückweisung ohne Asylverfahren darstellt. Also unternimmt die EU praktisch nichts.

Demonstration zum Thema “Sicherer Hafen Münster”.

Was unternimmt Deutschland, um den Schutzsuchenden zu helfen?

In Deutschland gibt es unterschiedliche Akteur*innen, die arbeiten können. Es gibt die Städte, die Länder und den Bund. Die Städte können ihre Aufnahmebereitschaft stark machen, was auch viele tun. Es gibt schon 142 Städte und Kommunen in Deutschland, die sich zum sicheren Hafen erklärt haben, und damit zeigen, dass sie bereit sind mehr geflüchtete Menschen aufzunehmen, als es die Quote verlangt. Das ist etwas, das die Städte tun können und was sie auch tun.

Doch leider haben die Städte nicht genug Entscheidungsmacht darüber, dass der Aufnahmebereitschaft tatsächlich auch Taten folgen können. Aber die Städte und Kommunen können Druck auf die Länder und auf den Bund ausüben, so dass Taten folgen müssen. Das passiert aber leider nicht. Es gibt von Bundesebene aus nur leere Versprechungen und durch Corona werden bereits geplante Evakuierungen, wie zum Beispiel die, die letztens verkündet wurde, nämlich, dass Deutschland 350 minderjährige Menschen aus Moria aufnehmen möchte, abgesagt oder verschoben. Solche Sachen und Resettlement-Programme werden eingestellt, aber Abschiebungen werden weiterhin vorgenommen – das geht in Corona-Zeiten anscheinend noch. Also wird trotz Bereitschaft der Zivilbevölkerung nichts wirklich getan, um den Geflüchteten zu helfen.

Gibt es überhaupt Aktionen, zu versuchen das Verhalten der Grenzschutzbeamt*innen zu ändern?

Nein, es wird nichts dafür getan. Es wird gewollt und es wird von der EU finanziert. Letztens ist zum Beispiel auch Frau Von der Leyen dahin gereist, hat da eine Rede gehalten und hat die griechischen Grenzschützer*innen noch gelobt, als “ein gutes Schutzschild Europas”.

Was tut die Seebrücke, bzw. was kann die Seebrücke momentan tun, um den Geflüchteten zu helfen?

Die Seebrücke versucht viel Öffentlichkeit zu schaffen und wir versuchen Informationen, bezüglich der Situation in Libyen, in den griechischen Lagern und generell auf dem Mittelmeer, in die Öffentlichkeit zu tragen, die sonst in den Medien oft untergehen.

Das tun wir momentan viel über Social-Media. Aber sonst gehen wir auch auf die Straße oder machen Plakataktionen, so dass das Thema in die Öffentlichkeit getragen wird. Wir sammeln auch Spenden durch Aktionen, die wir machen und spenden das dann an zivile Seenotrettungs-Organisationen oder an Organisationen, die den Menschen in Moria helfen, wie zum Beispiel “Lighthouse Relief“.

Wir sind ja generell eine offene Bewegung, die von unten heraus arbeitet. Wir versuchen so Einfluss auf die Politik zu nehmen und wir versuchen lokal sichere Häfen zu schaffen, die zeigen, dass es Aufnahmebereitschaft gibt, damit diese Druck auf Bundes- oder EU-Ebene ausüben können.

Kreide-Aktion zum Thema “Spuren hinterlassen”.

Was kann man als Einzelperson tun, um zu helfen?

Man kann eine ganze Menge als Einzelperson tun! Zunächst ist es wichtig, sich aktiv mit der Thematik auseinanderzusetzen und sich aktiv Informationen zu holen, weil diese in den Medien leider sehr häufig untergehen. Es gibt zwar viele Berichte darüber, nur muss man diese oft selber heraussuchen. Dazu kann man sich unabhängige Medien anschauen oder man kann gucken, was Hilfsorganisationen dazu schreiben und sich da auf dem aktuellen Stand halten.

Man kann natürlich auch Bücher lesen, die die Situation im großen Konzept erklären. Es ist wichtig, dass das jeder einzelne Mensch tut. Es kann auch jeder Mensch spenden, zum Beispiel an Organisationen, an die die Seebrücke auch selber spendet oder an Leute, die zivile Seenotrettung vornehmen oder die Geflüchteten in irgendeiner Art und Weise einfach helfen.

Wenn man etwas aktiver werden möchte, kann man Aktionen der Seebrücke oder anderer Initiativen unterstützen. Man kann an den Demos teilnehmen und es gibt auch Aktionen, da ruft die Seebrücke dazu auf, Briefe an Politiker*innen zu schreiben. Das ist super einfach, da kann jeder Mensch mitmachen. Es kann auch jeder Mensch ein Transpi malen und aus dem Fenster hängen. Ein Schritt weiter wäre, Stellung zu beziehen und in dem Protest einfach nicht müde zu werden. Wenn es diskutiert wird, einfach mal dagegen zu halten und Informationen, die man sich gesammelt hat, dann stark zu machen und am besten natürlich, sich selbst zu organisieren. Man kann auch Bündnissen beitreten, wie zum Beispiel der Seebrücke oder Pro Asyl. Da gibt es ja super viele und da ist auch für jede*n was dabei. Aber wichtig ist, dass die Menschen etwas machen. Und jede*r Einzelne kann etwas machen und muss daher auch etwas machen.

Fotos: Seebrücke
Stand: 2. April 2020

Felix Michaelis

Ehemaliger Auszubildender Mediengestalter.
Seit 2019 im Redaktionsteam.

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