Unter dem ersten Eindruck der Corona-Pandemie wurden nicht nur Kitas, Schulen, Kirchen und Geschäfte geschlossen, sondern auch jegliche Versammlungen de facto verboten. So wurden die ersten Kundgebungen auch von Zuhause aus oder nur mit Transparenten durchgeführt. Dementsprechend hatte die Seebrücke Münster schon am 18. März 2020 mit Transparenten an der Paul-Wulf-Skulptur darauf aufmerksam gemacht, dass immer noch unmenschliche Bedingungen in den Geflüchteten-Camps auf Lesbos herrschen. Sie forderten unter dem Hashtag #LeaveNoOneBehind: „Einer der wichtigsten Münsteraner, Paul Wulf, appelliert: Für ein Ende der Gewalt an der EU-Außengrenze, für die sofortige Evakuierung der Camps.“
Ebenso rief das Bündnis gegen Abschiebungen zum Internationalen Tag gegen Rassismus dazu auf, Transparente am Wohnzimmerfenster oder Balkon aus Solidarität mit Schutzsuchenden in Griechenland und an der EU-Außengrenze herauszuhängen (ebda.).
Anti-Atom-Kundgebung durchgefochten
Seitdem sind aber auch schon mehrere Kundgebungen durchgeführt worden – schließlich hält Corona auch die allgemeine politische Entwicklung nicht auf. So hatte als Erstes in Münster die Anti-Atom-Gruppe „SofA – für den sofortigen Atomausstieg“ eine Kundgebung gegen einen Uranmülltransport aus der Urananreicherungsanlage URENCO in Gronau nach Russland für den 6. April 2020 angemeldet. Gerade unter den Bedingungen einer Pandemie sei es unverantwortlich, Atommülltransporte durchzuführen, so die Gruppe.
Zunächst hatte das Ordnungsamt die Kundgebung untersagt. Schließlich sei die Kundgebung nicht „systemrelevant“. Die Gruppe legte aber Widerspruch beim Verwaltungsgericht ein. Der renommierte Münsteraner Verwaltungsrechtler Wilhelm Achelpöhler unterstützte sie dabei. Daraufhin knickte das Ordnungsamt ein und ließ die Kundgebung unter Auflagen zu. Mit eben jenen Auflagen (maximal 15 Teilnehmer*innen, Mund- und Nasenschutz, Abstand der Teilnehmer*innen) hatte aber schon die Gruppe ihre Kundgebung beantragt.
Die Kundgebung verlief im Übrigen geordnet, obwohl insgesamt 65 Teilnehmer*innen gezählt wurden. Sie demonstrierten einfach im „rotierenden“ Verfahren.
Schwierigkeit Teilnehmer*innenzahl
Im zweiten Fall war es dagegen schwieriger. Bei der Kundgebung der Seebrücke und des Bündnisses gegen Abschiebungen am 8. April 2020 am Stadthaus 2 am Ludgerikreisel, waren unter den gleichen Auflagen circa 100 Demonstrant*innen zugegen. Sie hielten sich alle an die Auflagen (Mund- und Nasenschutz, Abstand der Teilnehmer*innen) und verteilten sich einfach um den Ludgerikreisel herum, damit dies funktionierte. Auch diesmal wollten die beiden Gruppen auf die Situation der Geflüchteten an der EU-Außengrenze aufmerksam machen.
Diesmal war das Ordnungsamt nicht so geduldig ob der Teilnehmer*innenzahl und drohte mit Strafanzeigen nach Corona-Verordnung, wenn die Versammlung nicht wegen Überschreitung der Teilnehmer*innenzahl aufgelöst werden würde. So lösten die Gruppen nach einer halben, statt einer ganzen Stunde gezwungenermaßen ihre Kundgebung auf. Ob dies nötig war, sei dahingestellt.
Ordnungsamt zurückgewichen
Daraufhin wurden zwei Kundgebungen untersagt. Einmal traf es Extinction Rebellion Münster, im zweiten Fall durften Münsters Gastronom*innen keine leeren Tische als Protest aufstellen.
Das Ordnungsamt war also wieder zurückgewichen und wollte keine weiteren Kundgebungen zulassen.
Fridays for Future: Demo ohne Menschen
Fridays for Future hatte schon zu Beginn der Pandemie angekündigt, ihre Demonstrationen einzustellen. Stattdessen riefen sie eine Initiative „Nachbarschaftshilfe“ ins Leben, um Risikopatient*innen Hilfen anzubieten. Trotzdem wollten sie den globalen Klimastreik-Tag nicht ungenutzt verstreichen lassen: Sie riefen dazu die Aktivist*innen auf, ihre im Moment ungenutzten Demo-Plakate abzugeben. Diese sollten dann am Klimastreik-Tag an der Promenade aufgehängt werden. Doch das Ordnungsamt untersagte auch dies zunächst, schließlich sei Plakatieren an der Promenade verboten. Später kam aber dann doch das Okay aus Münsters Verwaltung. So hingen einen Tag an der Promenade vom Kanonengraben über die Windthorststraße bis zum Buddenturm Klima-Plakate an jedem fünften Baum.
SofA muss wieder ran
In der Zwischenzeit hatte ein linker Aktivist aus Gießen ein Urteil vor dem Bundesverfassungsgericht durchgefochten, dass höchstrichterlich Versammlungen in Corona-konformen Formen zuließ. Nichtsdestotrotz musste SofA für ihre zweite Mahnwache tatsächlich noch einmal das Gericht bemühen. Wieder hatte das Ordnungsamt deren Kundgebung untersagt. Plötzlich hieß es, dass nicht nur die Seebrücken- und “Bündnis gegen Abschiebungen”-Kundgebung „aus dem Ruder gelaufen“ seien, sondern auch die Anti-Atom-Kundgebung. Obwohl Ordnungsdezernent Wolfgang Heuer (SPD) die erste Anti-Atom-Mahnwache zuvor noch gelobt hatte.
So entschied das Verwaltungsgericht auch, dass die zweite Kundgebung der Anti-Atom-Gruppe SofA genehmigt werden müsse. Wieder natürlich mit Mund- und Nasenschutz, wieder mit Abstand. Aber: Das Verwaltungsgericht erlaubte 35 Kundgebungsteilnehmer*innen. Diesmal wurde also wieder demonstriert: Nur – der Atommüllzug fuhr gar nicht. Die Anti-Atom-Gruppe mutmaßte, dass URENCO doch die schlechte Presse fürchtete – schließlich hatte die erste bundesweit überhaupt genehmigte Kundgebung bundesweites Presse-Echo ausgelöst.
Versammlungsregeln spielen sich ein
Seit dem Urteil des Verwaltungsgerichts zur zweiten Mahnwache haben sich scheinbar die Versammlungsregeln in Münster eingespielt: Klimaalarm führte eine Kundgebung auf dem Hafenplatz vor den Stadtwerken durch, eine Versammlung monierte, dass die Geschäfte pleitegehen und die Grundrechte abgeschafft würden, zwei unabhängige 1. Mai-Kundgebungen [1, 2] (die Gewerkschaften hatten wegen des langen Vorlaufs ihre Kundgebungen ins Netz verlegt), das Gedenken der Gewerkschaften an die Zerschlagung der Gewerkschaften durch die Nazis und eine dritte Mahnwache gegen einen Atommüllzug fanden statt.
Alles in allem: Das Versammlungsrecht ist wieder hergestellt. Alle Kundgebungen verliefen geregelt nach Kontaktsperre- und Abstandsregeln. Bei den Kundgebungen zum 1. Mai waren 50 Leute angemeldet, und obwohl jeweils an die einhundert Personen kamen, lief alles reibungslos ab. Auch das Ordnungsamt hatte keine Einwände.
Kommentar: Die Linke erkämpft die Grundrechte
Mal wieder hat die politische Linke die Grundrechte erkämpft! Denn: Natürlich kann der Staat nach dem Grundgesetz die Grundrechte einschränken. Es werden in einem kapitalistisch-demokratischen Staat immer verschiedene Grundrechte gegeneinander aufgewogen. In diesem Fall der Pandemie wird das Grundrecht auf persönliche Unversehrtheit gegen die anderen Grundrechte abgewogen. Einfach gesagt: Wird durch Corona-Partys meine Unversehrtheit eingeschränkt? Dann können die anderen Grundrechte hintenanstehen. Aber: Diese Einschränkungen müssen verhältnismäßig sein. So haben die Verwaltungsgerichte (nach Anfangsschwierigkeiten) und das Bundesverfassungsgericht eben auch gesagt: Nicht jede Kundgebung ist verboten – es müssen aber die Kontaktsperre- und Abstandsregeln eingehalten werden. Und auch die Zahl der Teilnehmer*innen kann beschränkt werden. Aber: Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit dürfe auch jetzt nicht per se eingeschränkt werden.
Leider gelten diese bürgerlichen Rechte dann auch für Nazis und Verschwörungstheoretiker*innen. Auch sie dürfen dann unter dem von der politischen Linken wieder erkämpften Versammlungsfreiheit auf angemeldeten Kundgebungen gegen vermeintliche Demonstrationsverbote und die „Merkel-Diktatur“ demonstrieren. Leider werden bei denen daraus aber allzu oft unangemeldete Corona-Partys, die alle anderen gefährden!
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