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Ein Plädoyer für “Cancel Culture”

Lisa Eckhart, Dieter Nuhr oder Joanne K. Rowling – allesamt Opfer des Korrektheits-Totalitarismus, wie ihn viele Kommentator*innen und Kolumnist*innen beschworen haben? Oder nicht vielmehr Ausdruck emanzipativer Kultur, die sich selbst ihre Referenzrahmen aneignet und diskutiert, wem gesellschaftliche Relevanz beigemessen wird?

Wäre 2020 ein Blockbuster-Film, hätte er vermutlich vernichtende Kritiken bekommen: Überzogene Narrative, komplexe, zu verworrene Handlung, mittelmäßige, unnahbare Hauptcharaktere – und das Ende erst: komplett unmotiviertes Storytelling. Das Klimathema aus dem vorherigen Teil völlig links liegen gelassen, dafür apokalyptische Endzeitszenarien à la Steven Soderbergh. So weit die Realität. Auf eine Kraft war aber selbst und gerade in dieser abgefuckten Horror-True-Crime-Drama-Thriller-Schnulze immer noch Verlass: Der reaktionäre Backlash der bürgerlichen Privilegierten (je mehr der Items alt, heterosexuell, christlich-geprägt, weiß, nicht-be_hindert, reich, cis, männlich sie innehaben, desto besser). Die instinktive Verurteilung jeglichen Versuchs der Emanzipation, sei es Aufbegehren gegen Polizeigewalt, Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus: Der Cancel-Culture-Reflex; schließlich seien wir ja kurz davor, dass man ja wirklich gar nichts mehr sagen kann – adé der Kunst-, Presse- und Meinungsfreiheit, ja der ganzen liberalen Gesellschaft!

Cancel Culture ist, wenn man einen genaueren Blick versucht, ein sehr interessanter Begriff, der mit einem riesengroßen (reaktionären) Frame daherkommt, den wir einmal genauer analysieren wollen: In der Antike galt das Exil, noch vor der Todesstrafe, als schlimmstes Urteil, dass die Exekutive vollstrecken konnte. Nach der aristotelischen Staatsphilosophie ist der Mensch von Natur aus staatsbezogen, die Verbannung nimmt ihm demnach die Lebensgrundlage, er*sie muss außerhalb der Zivilisation sein*ihr Dasein fristen.  Wer Cancel Culture sagt, impliziert also in letzter Konsequenz eine von einer wie auch immer gearteten “Kultur” (dem Kulturbegriff wenden wir uns gleich noch zu) forcierten Entziehung der Lebensgrundlage – was natürlich mit unseren gesellschaftlichen Werten kaum zu vereinbaren wäre. Interessant daran ist jedoch, dass damit eine Viktimisierung vollzogen wird, die den wahren Opfern von Polizeigewalt, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Ableismus oder Queer-Feindlichkeit zurecht wie Hohn vorkommen muss: Das, was ein Dieter Nuhr “ertragen” muss, ist demzufolge ebenfalls marginalisierende Diskrimierung, gipfelnd in der Bezeichnung “alter weißer Mann” – ihnen wird, so das Narrativ, die kulturelle Lebensgrundlage entzogen, sie werden ihrer Stimme beraubt.

Was aber versteckt sich hinter dem Kulturbegriff in Cancel Culture? An dem Beispiel der Alice-Salomon-Hochschule Berlin lässt sich archetypisch festmachen, nach welchen Mechanismen emanzipative Kultur organisiert ist und warum sie wann von wem das Attribut “cancelnd” auferlegt bekommt. Seit 2011 “schmückte” das Gebäude der ASH ein Gedicht des bolivianisch-schweizerischen Lyrikers Eugen Gomringer, welches aufgrund seines Gewinns des Alice-Salomon-Poetik-Preises auf Initiative der Rektorin dort angebracht wurde. Die Übersetzung des spanischsprachigen Originals mit dem Titel Ciudad (dt.: “Stadt”) lautet folgendermaßen: “Alleen // Alleen und Blumen // Blumen // Blumen und Frauen // Alleen // Alleen und Frauen und // ein Bewunderer”.

Dieses Meisterwerk, das so auch von einem Sprachcomputer mit Ausgabefehler stammen könnte, wurde besonders für die Relation Frauen // Bewunderer kritisiert, da letzterer (männlich, außerdem als Einziger mit klassifizierendem Artikel) mit seinem “bewundernden” Blick erstere objektifiziere, in eine Kategorie setze mit Alleen und Blumen. Die Student*innenschaft der Alice-Salomon-Hochschule stimmte demokratisch über die Sache ab und kam mehrheitlich zu dem Entschluss, dieses Gedicht an der Hauswand ersetzen und/oder überstreichen zu wollen. Die bürgerlichen Feuilletons waren außer sich – zack, Cancel Culture. Eine urdemokratische Entscheidung zu missbilligen und totalitaristisch zu nennen, ist indes nur möglich, wenn man die Privilegierten (wie Gomringer) als Klasse dazu berechtigt sieht, Universitäten zu schmücken, und dass, wenn ihnen diese Rechte verwehrt werden, dies mit der Misshandlung von BIPoC durch die Polizei oder sexualisierter Gewalt gegen Frauen* gleichzusetzen sei.

Ähnliche Situationen kommen immer wieder vor: Eine kulturell polarisierende Figur wird durch einen legitimen Entschluss eines Individuums oder Gremiums nicht länger in einer bestimmten Position gehalten – wohlgemerkt ohne dass dabei irgendwelche persönlichen Rechte verletzt werden –, und im Anschluss philosophieren die privilegierten Kreise diese Entscheidung dann als Beweis für den Untergang des Abendlandes herbei. Und die xte Talk- und Tratschsendung darf sich — wie es in dem Business üblich ist – mit überwiegend weißen Menschen darüber austauschen, “was man heute eigentlich noch sagen darf?!?” Eine Beantwortung der Frage, was man denn explizit heute nicht mehr sagen dürfe, bleibt dabei jedoch am Ende meistens offen – was auch nicht verwunderlich ist, denn nur weil Hans-Peter nicht mehr unwidersprochen das N-Wort sagen darf, wird aus Deutschland nicht gleich Nordkorea.

Interessant wird der Cancel-Culture-Vorwurf dann, wenn er (und das ist meist der Fall) von (sich so bezeichnenden) Linken kommt, die vor zu viel Identity Politics warnen, oder – im marxistischen Jargon – Haupt- und Nebenwidersprüche ausdifferenzieren, ansagen, wann welcher Kampf wie und mit welchen Mitteln zu führen ist, und sich ganz schnell in ihre fragile Privilegien-Elfenbeinwelt zurückziehen, wenn sie kritisiert werden. Interessant ist auch die Beobachtung, wie viele sogenannte Linke Lisa Eckhart verteidigt haben, die vor ein paar Jahren einen “satirischen Tabubruch” beging, indem sie einfach mal das ganze Diskriminierungs-Wörterbuch von A wie Antisemitismus bis Z wie Z******r-Soße auswürgte. Die Frau entlarve doch nur Stereotypen, kämpfe für die gute, linke Sache, und schließlich gelte ja immer noch der gute alte Tucholsky: Was darf Satire – alles. Ja, Satire darf (fast) alles – aber nicht unwidersprochen, und Satire ist nicht dazu berechtigt, von allen zu jedem erdenklichen Zeitpunkt auf jeder gewünschten Bühne gehört zu werden. Es mag für Alt-Linke mit ihrem Dünnhaut-Nebenwidersprüche-Kunst-darf-alles-Reflex schwierig sein, irgendwann nicht mehr auf der guten Seite zu stehen, irgendwann selbst als das Böse angeprangert zu werden, aber Kultur ist immer Emanzipation, und auch von euch müssen wir uns irgendwann emanzipieren – genauso wie unsere Nachfolgegeneration das irgendwann mit uns tun wird. Menschen wie Lisa Eckhart, Dieter Nuhr, Joanne K. Rowling sind (obwohl ganz unterschiedlichen Alters) Vertreter*innen vorheriger Kulturepochen (und alle drei würden sich auch in irgendeiner Form als links bezeichnen oder treten zumindest in einem solchen Kontext auf), die sich nicht mit emanzipieren wollten oder konnten. Ihre Claqueur*innen in den Feuilletons und Alt-68er-Stammtischen haben mit Cancel Culture eine Vokabel gefunden, die die stetige emanzipative Kraft der Kultur denunzieren soll, letztendlich auch aufgrund ihrer Angst um die eigene Relevanz und das Kämpfen mit dem Unverständnis, jetzt auf einmal nicht mehr der*die Held*in der Revolution zu sein (ein Problem der (Alt-)Linken: sie wollen immer “fertigrevolutioniert” haben, aber so teleologisch ist die Welt einfach nicht).

Womit wir wieder bei Entitlement wären. Um das mal festzuhalten: Es herrscht in Deutschland, und überall wo “Cancel Culture” ein Thema ist, Meinungsfreiheit. Niemand wird für widerliche Debattenbeiträge ins Exil geschickt, Menschen mit Privilegien müssen (anders als Menschen, die aus einem Unterdrückungsverhältnis heraus schreiben/sprechen) nicht um ihr Leben fürchten, wenn sie ihre Meinung kundtun; das Einzige, was sich verändert, ist, dass ihnen ab sofort nicht mehr jede Bühne, jeder Kolumnenplatz, jeder Buchvertrag gegeben wird (Fun Fact: Die meisten Menschen, die “gecancelt” wurden, touren danach erstmal wochenlang durch die Empörungs-Presse oder wechselten schlicht ihren Auftraggeber) Aus den Bezeichnenden werden zum ersten Mal Bezeichnete – das ist ein ur-emanzipativer Akt, den wir kulturpolitisch viel öfter nutzen sollten. Daher der Schlachtruf: Für mehr Cancel Culture!

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Beitragsbild: Jeffrey Czum via Pexels

Paul Oppermann

Wenn durch das Blut genug Mate fließt, haut Paul gerne seine philosophische Sicht auf die Welt in die Tasten. Nebenbei arbeitet er an der Weltrevolution und geht, wenn Zeit bleibt, zur Schule.

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Grüße aus dem Flammenmeer

Ob Klimapolitik, Kapitalismus oder Kriegstreiberei – viel Stoff für die Kolumne von Philipp Schröder und Paul Oppermann. Über die Themen, die sie gerade bewegen, schreiben die beiden Schüler in dieser Kolumnenreihe auf ostviertel.ms