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Kein Vergessen mehr

Heute vor 30 Jahren starb Amádeu Antonio Kiowa. Sein Tod wurde zu einem der bekanntesten Fälle rechter Gewalt in der Nachkriegsgeschichte. Neben ihm wurden seit 1945 ungefähr 300 Menschen Opfer rechter Gewalt, deren Geschichte und grausames Schicksal Thomas Billstein nun in dem Buch “Kein Vergessen” dokumentiert.

Es ist der 24. November 1990. Amadeu Antonio Kiowa ist mit zwei Männern unterwegs, als sie plötzlich Mitgliedern von einer rechten Gruppe, die sich in einer Diskothek mit Nazi-Skinheads und rechten Jugendlichen getroffen haben, um “irgendwelche Andersaussehenden zusammenzukloppen”, zusammentrafen. Die Gruppe prügeln Amadeu Antonio brutal zusammen, ein Täter sprang noch mit seinen Füßen auf den Kopf des am Boden liegenden Antonios. Der 28-Jährige verstarb am 06. Dezember 1990 an den schweren Folgen des Angriffs.

Der Fall von Amádeu Antonio Kiowa zeigt eindrücklich, wie sehr die Exekutive und Judikative versagt haben, seinen Tod zu verhindern – und die Täter angemessen zu bestrafen. Bereits am Abend standen rund 20 Polizist*innen in der Nähe des Tatorts, ohne einzugreifen. Und auch die Justiz kam zu einem Urteil, was bezeichnend und schockierend ist: Vier Jahre Jugendstrafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge, da ein Mord erstmal ausgeschlossen wurde. Eine Anklage gegen die untätigen Polizist*innen wurde unanfechtbar zurückgewiesen.

Keine Einzelfälle mehr

Walter Lübcke, der NSU, Hanau. Rechtsextreme Anschläge sind längst keine Einzelfälle mehr, sondern vielmehr das Resultat einer vermehrten Bedrohungslage von rechts. Vielen Opfern aber wird in der Öffentlichkeit kaum Bedeutung geschenkt, sie bleiben unsichtbar. Genau hier setzt Thomas Billstein ein, der schon mit einem Twitter-Account einen Gedenkkalender in den sozialen Medien ins Leben gerufen hat, um Opfer rechter Gewalt sichtbar zu machen und ihnen zu gedenken.

Dabei ist es grundsätzlich nicht ganz einfach, eine Definition zu finden, was rechte Gewalt überhaupt ist, um die Fälle entsprechend einordnen zu können. Fest steht für Billstein aber: “[…] die behördliche Zählung, welche zum Teil auf veralteten und fehlerbehafteten Bewertungssystem beruht, [ist] kein objektiver oder gar wissenschaftlicher Maßstab”. Somit halfen Billstein für Recherche und Einordnung der Fälle für die Dokumentation vor allen Dingen Lokalmedien, aber auch antifaschistische Gruppen und Journalist*innen, die bereits Fälle rechter Gewalt dokumentiert haben.

Alles in allem: Das Buch schockiert. Es schockiert wegen des hohen Ausmaßes an rechter Gewalt. Es schockiert wegen der rechtsextremen Ideologie, Tatmotiven wie Rassismus, Antisemitismus, Misogynie und weitere und es schockiert vor allen Dingen angesichts der mangelhaften Aufklärung und Aufklärungswillen durch die Behörden, wie sehr viele Fälle, die Thomas Billstein dokumentiert hat, eindrücklich zeigen. “Egal ob im öffentlichen oder privaten Raum, ob im beruflichen Umfeld oder in der Familie: Es ist und bleibt Aufgabe und Verantwortung eines jeden, gegen rechtsextreme und menschenfeindliche Hetze vorzugehen”, so Billstein. Dem ist nichts hinzuzufügen. Man kann nur hoffen, dass es keine Fortsetzung eines solchen Buches geben muss.

Thomas Billstein: Kein Vergessen. Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945. Unrast-Verlag 2020. 344 Seiten, 19,80 Euro.

Philipp Schröder

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