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Literatur und Realität: “Der Sandler”

Mit “Der Sandler” bringt Markus Ostermair eine besondere Art von Literatur aufs Papier: Es erzählt die Geschichte von Obdachlosen auf den Straßen der reichen Großstadt München.

Ein Sandler ist auf Österreichisch ein Obdachloser oder ein Bettler – und genau das ist Karl Maurer. Er war Lehrer, bis in seinem Leben ein Ereignis geschah, was alles änderte: Er hat mit dem Auto einen Jungen überfahren und dieser starb daraufhin. Ein Trauma, das ihn auch noch längst nach dem Unfall beschäftigt. Und auch sein Leben spielt an einem ganz anderen Ort als sein Zuhause damals mit seiner Frau: Auf der Straße.

Ostermair erzählt von Karls Leben – ohne Details auszulassen oder den Lesenden ein Gefühl von Distanz zum Protagonisten zu vermitteln. Im Gegenteil: Man ist in der Figur drin, aber dann auch wieder nicht; der Erzähler spricht zum Beispiel zu Karl. In der Bahnhofsmission bei seinem Mahl begegnen ihn Freund*innen und Feind*innen. Über die über 300 Seiten begleiten die Lesenden die Protagonist*innen in der Nacht und bei Tag.

Der Autor präsentiert in “Der Sandler” eine Brillanz der realistischen Erzählung. Zwar sollen jegliche Parallelen zur Realwelt unbeabsichtigt sein; was aber mit Sicherheit eine nicht unerhebliche Rolle für das Gefühl des Lebens auf der Straße gespielt haben könnte, war Ostermairs früherer Zivildienst in einer Bahnhofsmission.

Wie realistisch kann Literatur sein?

Auch die literarische und sprachliche Ebene ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Denn sie ist vor allen Dingen nicht voyeuristisch, blickt nicht auf oben herab auf die “Penner”, sondern stellt den*die Leser*in immer auf dieselbe Ebene.

Immer wieder wird die Geschichte durch Zitate aus “dem Zettelwust von Lenz” unterbrochen. Lenz ist bis zu seinem Tod ein Freund von Karl gewesen, der eine große Rolle in Karls Bewältigung mit dem Leben auf der Straße und seinem Schicksal gespielt hat und auch nach seinem Tod noch spielt. Lenz war ein Optimist und beschäftigte sich in seinen Schriften mit Gesellschaftskritik:

Der Zufall bestimmt alles. Das will nur keiner wahrhaben. Die Leute faseln nur immer wieder was von Leistungen, von Erfolgen und davon, was sie sich verdient haben. Amen, aber ich sage euch: Ihr leistet nichts! […] Alle bilden sich mächtig was auf ihre Leistungen ein, wofür sie gefälligst entschädigt werden wollen. Lächerlich! Ich will, daß eure scheiß Finger am Boden bleiben! Ich will, daß eure Börsen zusammenkrachen.

Aber auch die Sprache grundsätzlich ist so realistisch, dass auch Vulgärsprache oder politische Inkorrektheit nicht ausgelassen werden: Frauen werden gelegentlich auch mal pejorativ als “Huren” bezeichnet, die Protagonisten werden wütend, gewaltvolle Szenen spielen sich ab. Aber auch erotische Szenen werden detailreich mit aufgenommen. Die Sprache, die Ostermair hier wählt, ist schonungslos. Aber sie ist genau richtig, wenn wir die Gesellschaft nicht durch eine Brille sehen möchten, die die menschlichen Schattenseiten ausblendet.

Das Leben auf der Straße ist hart. Obdachlose werden diskriminiert, ausgegrenzt. Die Mieten in den Städten explodieren, die Perspektivlosigkeit liegt auf der Hand, Menschen müssen ihr Zuhause verlassen und werden obdachlos. Aber gerade wir Privilegierten ducken uns davor gerne weg, wollen die dunklen Seiten der Profitmaximierung nicht sehen, die “Verlierer” des Systems. Sie werden bewusst ausgeschlossen, weil man negiert, dass es systematische bzw. strukturelle Probleme mit Armut gibt. Und das entmenschlicht genau diejenigen, die auf der Straße leben.

Albert wurde also vollgepisst, hat Balzke gesagt. Das hat er schon mal gehört. Man hört so einiges: bespuckt werden, zur Zielscheibe von Flaschenwerfern werden, angezündet werden. Etwas werden, weil nichts ist man schon.

Ostermair verleiht diesen Menschen – auch wenn es sich in “Der Sandler” um eine fiktive Erzählung handelt – Gehör, er gibt ihnen eine Stimme, auch in den vermutlich eher privilegierten Leser*innenkreisen, die dieses Buch in die Hand bekommen.

Markus Ostermair: Der Sandler. Osburg-Verlag 2020. ca. 350 Seiten, 20 Euro.

Philipp Schröder

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