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Winterliche Wiederentdeckung: Die Pest von Albert Camus

Schon zu Beginn des ersten Lockdown im März 2020 wurde das Buch im literarisch-gesellschaftlichen Diskurs erneut präsent, die Auflage schoss in die Höhe, sodass der 1947 erschienene Klassiker wieder auf Bestsellerlisten zu finden war: Die Rede ist von Albert Camus’ Roman ‘Die Pest’.

Camus lässt im – zu dieser Zeit zum französischen Kolonialreich gehörenden – Oran an der Mittelmeerküste Algeriens einen Seuchenausbruch geschehen. Wohlgemerkt ist es nicht irgendeine Seuche, die in der 200.000-Einwohner*innen-Stadt grassiert – sie ist keine geringere als die nach Schreckensgeschichten aus dem Mittelalter weitgehend in Vergessenheit geratene Pest (dem Buchtitel unschwer zu entnehmen).

Pest, diese Bezeichnung rührt aus dem antiken Rom und war damals gleichbedeutend mit der Seuche schlechthin. Nach einigen größeren und kleineren Ausbrüchen (der bekannteste davon tötete im 14. Jahrhundert große Teile der Bevölkerung Europas) schien die sogenannte zivilisierte Welt (Camus beschreibt Oran als eine Stadt, die sich über jegliche Gefahr, außer derjenigen, dass die gegen den Kolonialismus aufbegehrenden Algerier*innen die Stadt belagern, erhaben sieht) solche Geschichten nur noch als schauriges Mittelalter-Feature zu begreifen.

Fakt ist zwar, dass tatsächlich eine größere Pestepidemie oder gar -pandemie seit etwa hundert Jahren ausblieb, dennoch grassiert die Krankheit weiter gerade dort, wo medizinische Versorgung aufgrund globaler Ausbeutung dürftig bleibt, etwa auf Madagaskar. Trotzdem mag sich manche*r in dem Gefühl der Oraner wiedererkannt haben, waren wir doch bis zu diesem Jahr ebenfalls höchstens abstrakt mit dem Ausbruch einer tödlichen Krankheit bekannt.

Bemerkenswert ist das Buch in Zeiten von Corona (und darüber haben ja bereits einige kluge Stimmen seit April geschrieben), da es insbesondere die erste Phase des Ausbruchs unheimlich gut paraphrasiert – und das 73 Jahre vor dem Ausbruch von Covid-19: Die Übertragung durch tierische Zwischenwirte (in Die Pest sind es allerdings Ratten, die zu Beginn gehäuft auf den Straßen Orans verenden); der Patient zero; die unheimliche Vorahnung, dass sich eine Epidemie anbahnt; die leugnenden, zweifelnden Gegenstimmen; die zunächst viel zu laschen Maßnahmen; der schließlich notwendig gewordene Lockdown; der viel zu frühe Wunsch nach Lockerungen – all das kommt uns heute allzu bekannt vor.

Tatsächlich hat Covid-19 sowohl Parallelen zum fiktiven Pestausbruch von Oran wie auch zu anderen berühmten Pandemien (die Camus in der Vorbereitung auf seine schriftstellerische Tätigkeit genau studierte): Bereits bei der sogenannten Spanischen Grippe von 1918 gab es Maskenverweigerer*innen und eine politische Führung, die lieber das Land öffnen als vernünftige Pandemiepolitik betreiben wollte. (In dieser Hinsicht steht übrigens der nun scheidende US-Präsident Donald Trump seinem Vorgänger Woodrow Wilson bezüglich der exekutiven Inkompetenz in nichts nach.)

Es gibt jedoch auch einige Unterschiede zu Corona: Der Ausbruch ist, da Oran “hermetisch abgeriegelt” wird, auf diese Stadt begrenzt, bleibt also epidemisch; zudem gibt es kaum Ausgangsbeschränkungen, die Leute verkehren in der gesamten Zeit in Cafés und Restaurants (was auch daran liegt, dass die Pest zwar eine Sterblichkeitsrate von über 90% hat, aber nur schwer über Aerosole übertragbar ist).

Überhaupt ist es aber so, dass es Camus in seiner Pestchronik nicht um die Krankheit als solche geht; vielmehr ist das Werk als Parabel auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik zu lesen, wobei der Philosoph mit seinem Roman den Widerstand gegen selbige nacherzählt.

Der “Held” und Chronist der Geschichte, Doktor Bernard Rieux, sieht sich einer Verpestung ausgesetzt, die sowohl er als auch jede*r Infizierte so gut wie möglich zu bekämpfen versuchen. Sein Freund Tarrou sieht alle Oraner*innen schon im Voraus als potentiell verpestet; es gilt sich daher zu wehren, zu widerstehen, der Pest den Garaus zu machen.

Camus’ Lösung für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus (abriegeln, verteidigen, kämpfen) lässt den “Betroffenen” nichts übrig von dem Gedanken Jean-Paul Sartres, der sich “nie so frei gefühlt” habe wie in Zeiten der deutschen Besatzung. Während Sartre sich im Angesicht der Katastrophe über jeden klaren Gedanken freut, den er fassen kann, gibt es für Dr. Rieux und seine Leidensgenoss*innen bis zum Ende der Katastrophe nichts als müde Resignation, das Wissen, dass ein kleiner Fortschritt schnell verspielt sein, der Feind plötzlich unerwartet hart zurückschlagen kann.

Auch nach dem Ende der Epidemie, so Dr. Rieux, kann sich der Erreger Jahrzehnte in alter Kleidung halten und unerwartet wieder emporkommen – unter den Talaren Muff von tausend Jahren.

Camus’ Die Pest ist sowohl ein Buch, mit dem man Corona besser begreifen kann (die Parallelen sind teils wirklich erschreckend), als auch eine Warnung zum konsequenten Kampf gegen Faschismus, Rassismus und Nationalsozialismus.

Gerade vor diesem Hintergrund ist eine Anmerkung zu machen: Während Camus sowohl am Nationalsozialismus als auch an den Seuchenprophet*innen, die “Gottes gerechte Strafe” kommen sehen, aus guten Gründen kein gutes Haar lässt, wird der koloniale Hintergrund des Settings bis auf wenige – abfällige – Bemerkungen ignoriert oder schöngeredet.

Trotzdem empfehle ich das Buch allen, die sich im anstehenden Winterlockdown (der aufgrund der neuen Virusmutation B.1.1.7 verspricht, von längerer Dauer zu sein) einen neuen, philosophischen Blick auf ihre Situation erhaschen wollen. Albert Camus wurde nicht ohne Grund mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet!

Camus, Albert: Die Pest. Rowohlt, Hamburg. 95. Auflage, 2020. 12,00€

Paul Oppermann

Wenn durch das Blut genug Mate fließt, haut Paul gerne seine philosophische Sicht auf die Welt in die Tasten. Nebenbei arbeitet er an der Weltrevolution und geht, wenn Zeit bleibt, zur Schule.

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