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SPD: Autoarme Innenstadt mit Bürger*innenbeteiligung

Der Koalitionsvertrag ist nun druckreif. Die neue Koalition aus Grünen, SPD und VOLT hat schon ihre Arbeit aufgenommen. Der Wille der Koalition für eine fast autofreie Innenstadt hat hohe Wellen geschlagen. Die konservative Opposition schäumte. Wir haben uns Münsters Politik ins Studio geholt und die einzelnen demokratischen Akteur*innen zum Stand der Dinge befragt. Hier das Interview mit Marius Herwig, dem Fraktionsvorsitzenden der SPD.

Das Interview hat Jan Große Nobis am 5. März 2021 mit Ratsherrn Marius Herwig geführt.

Jan Große Nobis: Hallo liebe Hörerinnen und Hörer. Heute sprechen wir mit Marius Herwig, dem Fraktionsvorsitzenden der SPD im Stadtrat der Stadt Münster. Der Koalitionsvertrag ist verabschiedet, die neue Koalition aus Grünen, SPD und Volt nimmt ihre Arbeit auf. Die SPD ist eine der Junior-Partner*innen in der Koalition. Wir fragen nach, wie zufrieden die SPD mit dem Vertrag ist, wo der geforderte neue Stadtteil verloren gegangen ist und wie es um die Gegenfinanzierung der vielen angestrebten Projekte steht?

Hallo Herr Herwig! Der Koalitionsvertrag ist verabschiedet, aber intern gab es Diskussionen um diesen Vertrag. Ihr ehemaliger Fraktionschef Mathias Kersting ist zurückgetreten. Was war passiert? Wie ist die SPD nun personell aufgestellt?

Marius Herwig: Ja, das stimmt. Mathias Kersting ist uns im Rahmen der Koalitionsverhandlungen sozusagen verloren gegangen.

Zum Koalitionsvertrag – und das ist immer so in Koalitionen – gehören halt Kompromisse… Und die mussten wir schließen. Uns war auch klar, dass wir nicht mehr der stärkere Partner sind, sondern seit der Wahl sind wir kleiner geworden und die Grünen waren der stärkere Partner. Und das hieß für uns, wenn wir wieder in die Regierung in Münster kommen wollen, dass wir auch Kompromisse schließen müssen.

Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen hat Herr Kersting dann einige der Kompromisse so nicht mittragen wollen und ist daraufhin dann zurückgetreten. Und dann haben wir nachverhandelt und – ich glaube – wir haben jetzt einen guten Vertrag.

Wir haben auch noch mehr für die SPD in den Nachverhandlungen raus geholt und haben uns jetzt, nachdem dann die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen waren, noch neu personell aufgestellt, mit mir an der Spitze und im Fraktionsvorstand ist dann noch unser planungspolitischer Sprecher, der Handorfer Ratsherr Ludger Steinmann aufgerutscht sozusagen und weiterhin sind wir mit Lia Kirsch und Doris Feldmann gut vertreten, glaube ich.

Ja, dann noch mal herzlichen Glückwunsch zur Wahl zum Fraktionsvorsitzenden. Sie haben es vorhin schon angedeutet. Sie haben nachverhandelt. Was sind die größten Erfolge der Nachverhandlungen mit den Grünen und Volt?

Ich glaube, einer der größten Erfolge ist, dass wir für das ganze Programm, was wir in der Innenstadt in Sachen Verkehr vorhaben… Ich glaube, da liegen grundsätzlich die Parteien gar nicht so weit auseinander. Aber es war ein bisschen der Streitpunkt: Wie machen wir das? Und ich glaube als SPD haben wir da sehr viel mehr Bürgerbeteiligung rausverhandelt.

Ich glaube man muss, wenn man solche fundamentalen Änderungen im Verkehr in einer Innenstadt wie Münster vornimmt, mit Stärkung vom Radverkehr, mit Stärkung des ÖPNV, muss man vorher die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Leute auch in der Lage sind, umzusteigen vom Autoverkehr auf andere, umweltfreundlichere Verkehrsträger. Ich glaube, dass haben wir erzielt und wir haben halt mehr Beteiligung für die Leute, die dort wohnen, erzielt. Und ich glaube, dass ist der größte Erfolg.

Für uns war von vornherein klar, dass wir, wenn wir die Innenstadt so umbauen, dass wir vorher Alternativen schaffen müssen. Das ist das, was wir als SPD dort reingebracht haben, dass wir ÖPNV und Radverkehr erst stärken müssen und dann können wir die Autos aus der Innenstadt holen.

Also erst die Alternative stärken und dann die Einschränkungen für das Auto? Aber was ist denn, wenn die Münsterland-S-Bahn nicht rechtzeitig kommt? Der Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe spricht jetzt ja davon, dass die Münsterland-S-Bahn erst 2035 fertig wird. Dann fehlt ja ein Eckpfeiler des Konzepts.

Das ist richtig, das ist sicherlich ein Problem. Wir hätten uns ein sehr viel schnelleres Tempo für die Münsterland-S-Bahn gewünscht. Aber die Münsterland-S-Bahn ist nicht der einzige Teil. Man kann den Busverkehr stärken, es ist ja jetzt auch schon so, dass man mit Bussen aus dem Umland nach Münster fahren kann.

Das müssen wir glaub ich, bis die S-Bahn kommt, falls sie denn kommt, ausbauen. Das zeigt sich übrigens dann auch, dass das ein Wahlkampf-Gag sozusagen der CDU-Landräte in Münsterland war und da nicht viel dahinter steckte. Weil mit der Bahn haben sie sich scheinbar nie gesprochen, als sie so taten, als würden sie da jetzt in aller Schnelle die Münsterland-S-Bahn schaffen.

Und es gibt natürlich auch noch andere Alternativen, als die S-Bahn. Wir haben vor, dass wir an den Stadträndern Parkhäuser schaffen, so dass die Leute aus dem Münsterland mit ihrem PKW nach wie vor nach Münster fahren können, aber dann umsteigen und Park-&-Ride-Systeme nutzen.

Dafür wäre die S-Bahn schön, aber sie ist nicht notwendig dafür. Die WLE wird bald kommen, auch wenn sie sich ein bisschen verzögert, wird sie kommen, und das ist natürlich ein weiteres Element. Und wenn wir der Meinung sind, auch ohne die S-Bahn, dass die Alternativen geschaffen werden, können wir dann auch in der Innenstadt richtig loslegen.

Das Schwimm- und Freizeitbad in Gievenbeck kommt, aber ein ganz neuer Stadtteil, wie von der SPD im Wahlkampf gefordert kommt zunächst nicht. Sind sie trotzdem zufrieden mit den wohnungspolitischen Eckpunkten des Koalitionsvertrags?

Ja, das sind wir, sonst hätten wir den Koalitionsvertrag so nicht verabschiedet. Wir haben 50 Millionen Eigenkapitalstärkung zum Beispiel für die Wohn- und Stadtbau drin. Und nach Aussage der Wohn- und Stadtbau, kann sie damit 1.000 zusätzliche Wohnungen in Münster schaffen. Und ich glaube, das ist schon ein riesen Gewinn, den wir da erzielt haben.

Es ist natürlich schade, dass der Stadtteil so nicht kommt, aber man muss auch akzeptieren, wenn man für seine Inhalte keine Mehrheit findet, und das hat sich ja schon vor der Wahl im Stadtrat angedeutet, dass es da große Widerstände gibt. Deswegen haben wir das im Koalitionsvertrag so nicht durchsetzen können.

Nichtsdestotrotz haben wir Milieuschutzsatzungen zum Beispiel – auch für das Südviertel – im Koalitionsvertrag stehen und das sind glaub ich gute Voraussetzungen, das wir das Problem in Münster weiter abmildern können, des zu wenigen und zu teuren Wohnraums. Und deswegen haben wir dem zugestimmt und da bin ich zuversichtlich, dass das erste Schritte sind. Nichtsdestotrotz ist sicherlich ein neuer Stadtteil, auch andere Parteien fordern das ja im Übrigen, nicht für immer vom Tisch.

Die FDP hat Angst, dass es kein neues Eigenheim mehr in Münster gibt. Wird das so kommen oder sind auch Eigenheime eingeplant?

Ich denke nicht, dass es überhaupt keine Eigenheime mehr in Münster geben wird. Also das sehe ich ehrlich gesagt nicht. Es ist klar, dass das kein Modell für die Innenstadt ist. Ich glaube wir müssen bei dem wenigen Platz, den wir in Münster haben, sparsam mit Flächen umgehen. Und es ist klar, das Einfamilienhäuser nicht die sparsamste Art des Bauens ist, aber ich glaube trotzdem, dass es in den Außenstadtteilen weiterhin auch Eigenheime geben wird.

Ein zweiter Schwerpunkt des Koalitionsvertrags ist die Geschlechtergleichstellung und Inklusion. Sie zieht sich durch das ganze Werk. Die Gleichstellung von Menschen mit Migrationsvorgeschichte findet nur in einem kleinen eigenen Kapitel und dem Kapitel Personal statt. Warum zieht sich dieses Thema nicht ebenso als Leitfaden durch alle Kapitel des Koalitionsvertrags?

Um ehrlich zu sein, ich glaube, dass ist keine mangelnde Schwerpunktsetzung. Sie müssen wissen, wie so Verträge entstehen. Da schreiben ganz viele Leute verschiedene Dinge zusammen und am Ende hat man dann das Vertragswerk. Ich glaube, dass dieser Punkt auch für die Koalition wichtig ist, auch wenn er sich vielleicht im Koalitionsvertrag nicht in jedem Kapitel so durchzieht, wie es bei anderen Themen, wie zum Beispiel der Geschlechtergerechtigkeit ist.

Aber ich habe ehrlich gesagt keine Zweifel und das nehme ich auch so war, jetzt wo wir langsam anfangen die konkrete Politik auch umzusetzen, dass das Thema irgendwie unter die Räder kommt. Im Gegenteil!

Die Opposition will digitale Endgeräte für alle Schüler*innen und das sofort. Warum wollen sie als Koalition erst alle Schüler*innen zum Ende der Legislaturperiode versorgen? Muss das unter Corona nicht schneller gehen? Und wie ist der Stand, mit dem im Schulausschuss verabschiedeten ersten Paket an digitalen Endgeräten?

Ja, die Opposition fordert das, aber das ist nicht wirklich seriös. Man muss das Ganze auch umsetzen können. Also, man muss die Geräte auch alle Einrichten können und so weiter. Und wir haben uns entschieden, bis 2025 nach und nach alle Schülerinnen und Schüler, auch aus dem Eindruck der Corona-Situation, mit digitalen Endgeräten auszustatten und das werden wir jetzt tun. Das haben wir im Schulausschuss auch schon so beschlossen für den diesjährigen Haushalt und da werden wir weitermachen. Und man muss das Ganze natürlich auch nach und nach finanzieren können. Das kostet alles Geld und das Geld ist auch nicht, gerade jetzt in der Corona-Zeit… wird es alles weniger, auch im städtischen Haushalt. Und wir wollten da seriös vorgehen und nicht irgendwelche hohen Summen aufrufen, die dann am Ende nicht gehalten werden können.

Im Koalitionsvertrag wird selten über eine Gegenfinanzierung gesprochen. Otto Reiners von den Grünen hat geschätzt, dass alle Projekte in Summe mindestens 300 Millionen Euro kosten würden. Woher soll das Geld kommen? Ist da nicht ein Koalitionsstreit vorprogrammiert?

Natürlich. Also, es ist natürlich so, dass im Koalitionsvertrag viele Projekte drin stehen. Alle stehen natürlich ein Stück weit unter einem Finanzierungsvorbehalt. Das muss man auch so sagen und das ist auch unter den Koalitionspartnern so besprochen. Was wir uns nicht leisten können, können wir uns schlicht und einfach nicht leisten.

Ich glaube man muss eine Aufgabenkritik in der Stadt machen, bei jedem städtischen Haushalt. Was brauchen wir eigentlich? Wofür geben wir Geld aus und ist das wirklich notwendig oder ist das noch notwendig? Ist das, was wir vielleicht vor 10 oder 15 Jahren mal beschlossen haben, dass wir da jedes Jahr Geld investieren oder Geld rein geben, ist das so noch notwendig oder nicht?

Wir sparen auch, also so ein Beispiel sind zum Beispiel, dass wir Straßen beim Straßenbau weniger Geld zur Verfügung stellen wollen, dass diese Investitionsmittel auch frei werden für andere Projekte im Verkehrsbereich.

Und man muss natürlich auch ein bisschen auf die Einnahmenseite gucken. Ich rede jetzt nicht von Steuererhöhungen, aber wir wollen auch, indem wir zum Beispiel die Innenstadt jetzt weiter stärken, dass die Einnahmen aus der Gewerbesteuer weiter fließen und dass die Innenstadt weiter stark bleibt und die Wirtschaft in Münster. Und das hilft dann natürlich auch dem städtischen Haushalt.

Die Stärkung der Innenstadt durch autofreie Innenstadt und dadurch auch die Einnahmenseite erhöhen?

Nein, also, das ist nicht nur die autofreie Innenstadt. Obwohl es da auch Beispiele gibt, dass autofreie Innenstädte die Innenstädte durchaus wiederbelebt haben und auch die Wirtschaft dort gestärkt haben. Aber ich rede auch davon, dass wir Programme jetzt in diesem städtischen Haushalt aufgelegt haben, die zum Beispiel die Corona-Folgen für den Einzelhandel abfedern sollen und so weiter. Also, das sind natürlich alles Punkte, die sich auch in den nächsten Jahren auf der Einnahmenseite in Punkto Gewerbesteuer positiv auswirken können, wenn möglichst wenig der Wirtschaft in dieser Krisenzeit wegbricht.

Was sind das konkret für Projekte für die Innenstadt?

Was wir vor allem wollen ist, dass der Teufelskreis von leeren Innenstädten durchbrochen wird. Also wir haben das jetzt erlebt in Münsters Innenstadt, dass einzelne Einzelhändler geschlossen haben, und wir wollen verhindern, dass die Innenstadt verwahrlost nach und nach und immer mehr Einzelhändler dort wegbrechen.

Deswegen legen wir zusammen mit Münster-Marketing ein Programm auf, in dem sozusagen leere Schaufenster wieder befüllt werden, um dem Ganzen mehr Leben zu bringen, damit die Leute immer noch gerne in die Innenstadt gehen und damit auch den Einzelhandel stärken.

Wird es mehr Blumen und mehr Gastronomie dazu auch geben?

Also ich kann mir vorstellen, da sind wir jetzt wieder beim Programm der weitestgehend autofreien Innenstadt, dass das natürlich auch die Gastronomie stärkt, wenn man mehr Außengastronomie machen kann, weil Platz gewonnen wird für – sie haben das angesprochen – für Blumen zum Beispiel oder eine grünere Innenstadt. Und ich glaube das hebt insgesamt die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt, schafft mehr Platz für Außengastronomie. Das ist gerade in Corona-Zeiten natürlich ein Plus für die Gastronomie, die ja wirklich hart betroffen ist vom Lockdown. Das sind Maßnahmen von denen wir uns schon erhoffen, dass die Innenstadt möglichst gut durch die Krise kommt.

Ganz ohne Verluste geht es aber auch nicht, dass ist uns schon klar.

Sie haben ein Mitte-Links-Bündnis im Stadtrat, die Verwaltung wird dagegen angeführt von einem konservativen Oberbürgermeister Markus Lewe. Was erwarten sie von der Zusammenarbeit mit OB Lewe und der Verwaltung? Wird es oft einen Machtkampf zwischen der Mehrheit im Stadtrat und der Exekutive geben?

Also ich erwarte schon eine konstruktive Zusammenarbeit, auch mit dem OB Lewe.

Ich glaube, Markus Lewe geht eventuell jetzt in seine letzte Legislaturperiode als Oberbürgermeister. Nicht, dass er das schon gesagt hat, aber man fragt sich ja schon, wie lange er noch machen will. Und: Ich glaube auch, er hat auch das Ziel, dass er was umsetzen will in dieser Stadt.

Wenn Markus Lewe auf seine Amtszeit zurückblicken will, dann wird er nicht sagen wollen „Okay, ich hab viele Projekte angefangen und keins davon umgesetzt“. Die Gefahr, dass er in die Situation kommt, läuft im Moment ein wenig. Wenn ich mir überlege, was er schon alles angekündigt hat und was nicht funktioniert hat: Zum Beispiel das Südbad, das bis heute immer noch nicht steht.

Und ich glaube er will was umsetzen und dazu braucht er natürlich den Stadtrat und dazu braucht er auch die Mehrheit im Stadtrat. Und wenn er mit uns konstruktiv zusammenarbeiten will, dann wird es an uns nicht scheitern. Wir wollen das, weil wir auch wissen, wenn wir unsere Projekte umsetzen wollen, können wir das nicht alleine, wir brauchen dafür die Stadtverwaltung.

Und so stelle ich mir das vor, dass wir gut zusammen arbeiten mit OB Lewe und Kompromisse finden. Aber klar ist auch, am Ende entscheidet der Rat und im Rat gibt es, wie sie zu Recht sagen, ein Mitte-Links-Bündnis.

An welchen Veränderungen in der Stadt werden die Menschen als erstes merken, dass Münster eine neue Regierung hat?

Ein Beispiel, das sicherlich relativ schnell umgesetzt werden wird, ist der Einstieg in die weitestgehend autofreie Innenstadt. Wir als SPD haben das im Wahlprogramm gehabt, dass wir die Pferdegasse und den Domplatz autofrei machen wollen, auch die Königstrasse. Und ich weiß nicht, das kennen sicherlich viele Münsteranerinnen und Münsteraner, wenn sie am Samstag oder Mittwochvormittag über die Königstraße gehen, wie sich da die Autos bis fast zum Ludgerikreisel stauen. Und diese Situation wollen wir möglichst schnell aufbrechen und das ist sicherlich ein Beispiel, woran die Menschen das sehen werden, dass sich was in Münster ändert.

Ich danke für das Gespräch!

Sehr gerne!

Jan Große Nobis

Jan ist Ureinwohner Münsters. In Münster geboren, ging er hier zur Schule, studierte Chemie, Geschichte und Soziologie und anderes und war in der juristischen Online-Redaktionswelt unterwegs – auch in Münster. In der Freizeit macht er antifaschistische Demo-Fotografie. Bei ostviertel.ms als Redakteur unterwegs.

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