Ein Kommentar von Jan Große Nobis
Dass eine Krise wie die jetzige dazu führen kann, dass sich die Verschiebung noch einmal verstärkt und Grundrechte fast als Bedrohung wahrgenommen werden – das ist schon eine Gefahr, der man versuchen muss entgegenzuwirken.”
Elisabeth Holzleithner, Professorin für Rechtsphilosophie an der Universität Wien
Inzwischen werden vermehrt Rufe nach einer Lockerung der Kontaktsperre laut. Ganz nach dem Motto: Es muss der Wirtschaft gut gehen! Gesundheit hin, Gesundheit her. Auch Moderatoren, wie zum Beispiel Theo Koll bei Berlin direkt (ab 5:38 Minuten), insistieren darauf.
Und Marco Buschmann (FDP) warnt:
Wenn die deutsche Mittelschicht den Eindruck erlangen sollte, dass ihre Belange und Bedürfnisse angesichts der Bedrohung ihrer sozialen Lage nicht ins Zentrum der deutschen Politik rücken und dort zu einer klaren Änderung der Prioritäten führen, dann soll kein verantwortlicher Politiker behaupten, er habe nicht wissen können, was dann geschieht. Dann liegt irgendwann Revolution in der Luft.”
Richtigerweise hat Buschmann darauf hingewiesen, dass eine Radikalisierung nach rechts aus der Mitte der Gesellschaft stattfindet, falls der Abstieg droht. Dem Mittelstand während und nach der Krise zu helfen, das sollte selbstverständlich sein. Aber mit einer Revolution von rechts zu drohen, falls keine Hilfe kommt, das ist infam.
„Und er hinterließ nicht den Eindruck, als fände er ein solch revolutionäres Verhalten besonders unverständlich.“
Christian Bangel erläutert in seinem Kommentar in Die Zeit anschaulich:
Egal wie: Buschmann nutzt ein kritisches gesellschaftliches Problem, nämlich die wachsende Militanz, vor allem am rechten Rand der Gesellschaft, und auch die Angst davor, um Parteipolitik zu machen. Das zeugt von einem zynischen Blick auf das Land. Es ist aber auch nicht mal besonders ausgefuchst. Es gab schon immer Leute, die sich für schlauer als die Militanten und Radikalen hielten und mit ihren Parolen spielten. Meistens haben sie sich verschätzt.”
Das haben wir in letzter Zeit schon häufig gehört. Statt gegen den aufkeimenden Faschismus aufzubegehren, wird dieser eingebunden. Die Leier ist so alt – das Scheitern haben wir schon 1933 gesehen!
Orban: Milliarden als Dank
Die Angst vor einer autoritären Revolte in Zeiten von autoritären Gesetzen ist nicht von der Hand zu weisen. Der ungarische Staatschef Victor Orban macht es vor: Seine Notstandsgesetze setzen weitgehend die parlamentarische Kontrolle außer Kraft, schränken die sowieso schon rudimentäre Presse- und Meinungsfreiheit weiter ein und setzen Wahlen aus. Eine Befristung ist nicht vorgesehen. Ob diese Regelungen nach dem Virus wieder aufgehoben werden? Das kann man bei Orban gewiss bezweifeln. Die EU vermeidet die Konfrontation und überweist weitere Milliarden als Dank und die Europäische Volkspartei (EVP) wiegelt ab.
Nicht so weit schweifen
Wir dürfen aber auch nicht so weit schweifen: Schon die Regeln zur Eindämmung der Pandemie – die ja richtigerweise ergriffen wurden – sind eigentlich grenzwertig. Sie sind schließlich Grundrechtseingriffe. Grundrechtseingriffe in das Eigentumsrecht, in die Freizügigkeit, in die Versammlungsfreiheit etc.
Eigentlich lässt das Infektionsschutzgesetz nur zu, Grundrechte von Infizierten oder Erkrankten und deren direktes Umfeld einzuschränken. Eine Ausdehnung von solchen Maßnahmen auf die gesamte Bevölkerung ist demnach unzulässig, aber gut. Die Infektionsraten sinken bereits. Dass wir jetzt schon das #FlattenTheCurve erreicht haben, liegt aber an der Umsichtigkeit der Bevölkerung. Sonst wäre das #FlattenTheCurve nicht schon am 21. März in Münster und dem Münsterland erreicht worden (Die Auswirkungen der erlassenen Maßnahmen werden wir erst ab Ende dieser Woche sehen). Das soll aber nicht heißen, dass wir im physical distancing jetzt alle nachlassen!
Landesregierung will nachlegen: Eingriffe in die Demokratie und die Grundrechte
Nichtsdestotrotz will die Landesregierung noch eins draufsetzen: Nicht vorhandenes medizinisches Material soll beschlagnahmt, Ärzt*innen und Pfleger*innen zum Dienst verpflichtet werden dürfen. Letzteres ist schon ein verfassungswidriger Eingriff in die Berufsfreiheit: Der WDR zitiert den SPD-Fraktionsvorsitzenden Thomas Kutschaty dazu wie folgt:
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Kutschaty zeigte sich am Montag (30.03.2020) verwundert, dass die Regierung jetzt einen solchen „verfassungswidrigen“ Entwurf vorlege. „Das ist eines der drastischsten Gesetze, das mir in meiner juristischen und politischen Tätigkeit zu Gesicht gekommen ist. Das sind Eingriffe der Freiheit, etwa der Berufsfreiheit, die nicht zu rechtfertigen sind“, sagte Kutschaty.”
Und: Nach den bisherigen Erfahrungen ist das auch gar nicht nötig, denn es arbeiten schon viele Freiwillige in den Krankenhäusern. So wie die Westfälischen Nachrichten berichten, haben sich zum Beispiel 1.800 der 3.000 Medizin-Student*innen aus Münster freiwillig zum Dienst gemeldet. Vielleicht sollte man doch einfach mal das Pflegepersonal entsprechend entlohnen! Aber das Gesetz, das nach Einordnung der Deutschen Presseagentur (DPA) auch „eine Art Notstands-Gesetz“ ist, beinhaltet noch mehr: Das Gesundheitsministerium soll weitreichende Befugnisse bekommen, sogar Grundrechtseingriffe ohne parlamentarische Kontrolle per Anordnung erlassen dürfen. Kommunale Parlamente sollen per vereinfachtem Umlaufverfahren bei eilbedürftigen Entscheidungen beschließen dürfen – ohne parlamentarische Debatte.
Die Linke kritisiert rechtmäßig:
So sollen in extrem eilbedürftigen Angelegenheiten „Beschlüsse im vereinfachten Verfahren“ ohne jede Beratung im Rat im Umlaufverfahren mit Vier-Fünftel-Mehrheit gefasst werden können. „Viel wichtiger wäre es, wenn die Landesregierung die gesetzliche Möglichkeit der Beratung in Kommunalgremien mittels öffentlicher und datenschutzkonformer Videokonferenzen eröffnen würde. Denn auch in Zeiten einer Pandemie müssen Ratsmitglieder Beschlüsse beraten und ihre Frage- und Kontrollrechte gegenüber der Verwaltung wirksam ausüben können.“
Verfassungswidrig: Gesundheits- und nicht Demokratiekrise
Deshalb kritisiert SPD-Fraktionsvorsitzender Thomas Kutschaty auch:
Wir sind in einer Gesundheitskrise und nicht in einer Demokratiekrise. Ein Parlament darf seine Kernkompetenzen nicht aufgeben, das ist ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung.”
Und der Staatsrechtler Christoph Degenhart legt im Bonner General-Anzeiger nach:
„Ich halte den Gesetzentwurf in der jetzigen Form in einigen Punkten für verfassungswidrig. Eine Reihe der geplanten Bestimmungen greift zu weit in Grundrechte ein und ist zu unbestimmt“, sagte der Staatsrechtler Christoph Degenhart unserer Redaktion. Der Gesetzentwurf sei überzogen: „Er beinhaltet ein viel zu weitreichendes Ermessen und erinnert damit an die Notstandsgesetzgebung für den Spannungs- oder den Verteidigungsfall. Das ist unverhältnismäßig“, so der emeritierte Rechtsprofessor und Verfasser staatsrechtlicher Standardwerke. Auch werde das Kollegialprinzip im Landeskabinett aufgehoben. „Der Gesundheitsminister wird zur maßgeblichen Instanz.“
[…]
Degenhart sieht zugleich das Parlament in seinen Rechten geschwächt: „Die Landesregierung will sich ermächtigen, bestimmte Gesetze wie etwa das Schul- oder Hochschulgesetz zum Teil außer Kraft zu setzen und durch Rechtsverordnungen zu ersetzen. Damit wird das Parlament in verfassungswidriger Weise umgangen.“
Viel zu ungenau sei der Anwendungsbereich des gesamten Gesetzes: „Wann dieses Gesetz anzuwenden ist, ist nicht konkret genug gefasst. Es könnte letztlich bei jeder bedrohlichen und leicht übertragbaren Krankheit angewendet werden. Es stellt sich auch die Frage: Gibt es überhaupt eine Epidemie, die an Landesgrenzen halt macht?“
Gut, dass die Opposition im Landtag NRW das Durchpeitschen des Gesetzes erst einmal stoppen will.
Solidarität und Hilfe gefordert
Vielleicht sollte die Landesregierung, statt Eingriffe in die Grundrechte und die Demokratie zu planen, lieber die Löcher stopfen, die bei den vielen Rettungsschirm-Gesetzen noch zu stopfen sind und das zusammengesparte Gesundheitssystem wieder aufpäppeln. Denn: Solidarität und Hilfe ist in dieser Krise gefordert!
Ach so: Sogar die FDP hat in einem Anfall von Anstand für Hartz-IV-Bezieher*innen gefordert:
#HartzIV-Empfänger/innen sind von #COVIDー19 besonders betroffen, u.a. weil Tafeln und günstige Geschäfte schließen & das Schulessen wegfällt. Wir fordern daher eine temporäre Erhöhung der #Grundsicherung um 15 Prozent (20 Prozent für Alleinerziehende)! #Mehrbedarf #Coronakrise”
Also Leute, #StayAtHome und achtet darauf, was eure Regierung währenddessen so treibt!
Nur wer in der Krise auf die peinliche Einhaltung des Rechtsstaates achtet, kann aus der Krise mit der Zuversicht hervorgehen, diesen Rechtsstaat auch nach der Krise noch zu haben. Wir dürfen gerade in Zeiten der Seuche dem Siechen der Grundrechte nicht teilnahmslos zuschauen.”
Alfred J. Noll, Rechtsanwalt in Wien und Universitätsprofessor für Öffentliches Recht und Rechtslehre
Foto von Jean-Daniel Francoeur von Pexels
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