Die Sorgen der Menschen nehmen in der Pandemie deutlich zu. Frau Hülskemper, Leitung der TelefonSeelsorge Münster, erklärt im Interview wie die TelefonSeelsorge arbeitet, erreichbar ist und was sich durch Corona verändert hat.
Wie läuft ein Arbeitstag für eine*n Berater*in normalerweise ab?
Die Berater*innen am Telefon und in der Mailberatung der TelefonSeelsorge Münster (TS) arbeiten ausschließlich ehrenamtlich.
Deshalb muss ich zuerst etwas zur Struktur der TS sagen:
Die TS-Münster, gegründet in 1972, in Trägerschaft des Stadtdekanat Münster e.V. und des evangelischen Kirchenkreises Münster, hat derzeit
– 4 Hauptamtliche (3 pädagogische Kräfte und eine Sekretärin)
– 72 aktive Ehrenamtliche in der Telefonberatung, 14 davon auch in der Mailberatung
– 10 Ehrenamtliche sind aus beruflichen oder privaten Gründen in einer Beurlaubung (bis max.
ein Jahr),
– 25 angehende Ehrenamtliche in Ausbildung und
– 10 Supervisor*innen auf Honorarbasis.
Die Ehrenamtlichen sind zwischen 28 Jahre und 76 Jahre alt und kommen aus sehr unterschiedlichen Berufsfeldern (gut 70% der Ehrenamtlichen sind berufstätig, andere studieren oder sind berentet). Und sie kommen (wohnen) aus Münster und den Kreisen Coesfeld, dem nördlichen Kreis Borken, dem Kreis Steinfurt und dem Kreis Warendorf.
Bevor ein Ehrenamtlicher ans Telefon gehen kann, absolviert er*sie eine gut 200 stündige Ausbildung mit den Schwerpunkten: Biographiearbeit/Selbsterfahrung, Gesprächsführung, besondere Ratsuchenden Gruppen (darunter Menschen mit suizidalen Absichten/Gedanken; Menschen mit psychischen Erkrankungen/Störungen; Kinder und Jugendliche), supervisorisch begleitete erste Schritte ans Telefon, Praxisreflexion.
Mit erfolgreichem Abschluss der Ausbildung und Aufnahme in die Mitarbeitendenschaft der TS- Münster, verpflichtet sich der*die TSLer*in – so nennen wir uns –
✓ zu absoluter Verschwiegenheit,
✓ zur anonymen Ausübung des Ehrenamtes – nur die ganz nahen Angehörigen wissen um diese
ehrenamtliche Tätigkeit –
✓ zur regelmäßigen Übernahme von 3 Tagschichten (3 Stunden) und einer Nachtschicht (4,5
Stunden) pro Monat
✓ zur regelmäßigen Teilnahme an einer Supervisionsgruppe (alle zwei, drei bis vier Wochen im
Umfang von 45 Stunden/Jahr) zur Reflexion und Weiterqualifizierung
✓ zur Teilnahme an spezifischen Fortbildungen (mindestens 10 Stunden/Jahr).
Die Mailer*innen absolvieren zur o.g. Grundausbildung für die Telefonberatung zusätzlich eine spezifische Online-Berater*innen-Ausbildung (gut 70 Stunden) und nehmen zusätzlich an Mailberatungs-Supervisions-Sitzungen teil. Letzteres dient ebenfalls der Praxisreflexion und Weiterqualifizierung.
Wir verfügen über einen Online-Dienstplan. Jede*r TSLer*in trägt ihre*seine Schichtmöglichkeiten 2 Monate im Voraus in diesen Dienstplan ein. Sollte jemand z.B. aus Krankheitsgründen verhindert sein, sind alle Ehrenamtlichen aufgefordert, diese Schicht wiederzubesetzen. Das klappt hervorragend. Heißt, die TS-Münster ist rund-um-die-Uhr, 24/7 an allen Tagen im Jahr (=immer) erreichbar. Zu sogenannten Anruferstarken Zeiten (ab ca. 16:30h bis 0.00h) haben wir in der Regel ein 2. Telefonzimmer besetzt, um unsere Erreichbarkeit zu erhöhen.
Zu Ihrer Frage: wie Sie vielleicht meiner Kurzvorstellung entnehmen können, kann ich sie so direkt nicht beantworten. Die Münsteraner Ehrenamtlichen haben einen kürzen Anfahrtsweg, die aus dem nördlichen Kreis Borken fahren bis zu einer Stunde zur TS, um dann ihren Dienst/ihre Schicht aufzunehmen. Mit Beginn der Schicht gibt es ein kurzes Übergabegespräch mit dem*der Vorgänger*in – Besonderheiten in der Vorschicht; könnte es sein, dass jemand noch einmal anruft.
Dann beginnt der*die TSLer*in mit der Schicht und schaltet sich für den*die nächste Anrufer*in frei. Am Ende der Schicht – nach 3 Stunden – blockiert der*die Ehrenamtliche die Leitung für das kurze Übergabegespräch und der*die nächste TSLer*in übernimmt.
Wie schnell ist ein*e Berater*in erreichbar? Gibt es Besetztzeichen? Was kann man in der Zwischenzeit tun?
Das kann sehr unterschiedlich sein. Anrufende können die TS sofort erreichen, manchmal müssen sie allerdings auch 4-6 mal probieren. Wie gesagt, die anruferstarken Zeiten sind von 16:30h bis 0:00h. Dann kann ein mehrfaches Anwählen der 0800 111 0 111 notwendig sein. Um unsere Erreichbarkeit zu erhöhen, haben wir uns in 2017 mit den drei TS-Nachbarstellen zusammengeschlossen: der TS- Bielefeld, TS-Recklinghausen und TS-Ostwestfalen. Wenn die Leitung(en) bei uns besetzt sind, weil ein seelsorgerliches Gespräch geführt wird, leitet ein Routingsystem den Anruf sofort innerhalb von 1-2 Sekunden an die nächste freie Nachbarstelle weiter. Sollten auch alle drei anderen TS-Stellen im Gespräch sein, dann erfolgt eine Bandansage, dass leider alle Leitungen im Moment besetzt sind und der*die Anrufende wird gebeten, es erneut zu versuchen.
Die Gespräche mit Ratsuchenden dauern unterschiedlich lang. Das kann niemand zuvor sagen, wie lange. Es hängt ja von dem Anliegen des*der Anrufenden ab. Geht es um Beziehungsprobleme, geht es um Erziehungsprobleme, um Mobbing in der Schule, um Arbeitslosigkeit, um Einsamkeit, um depressive Erkrankung, um suizidale Gedanken oder Absichten, um ein paar Anliegen zu nennen.
Und: die TSLer*innen wissen ja nie, wer denn anruft: die Rufnummer ist unterdrückt, absolut anonym. Selbst im Abrechnungsnachweis des*der Anrufenden ist nicht erkennbar, dass sie bei der TS angerufen haben. Das ist uns ganz wichtig, dass jeder Anruf absolut anonym bleibt.
Was können Ratsuchende in der Zwischenzeit tun? Noch einmal wählen. Leider kann ich nichts anderes sagen. Wenn die technische Möglichkeit besteht, kann auch gemailt oder gechattet werden. Allerdings hilft das im Moment sicherlich nicht weiter.
Vielleicht als Anmerkung: die TelefonSeelsorge Deutschland wurde in 1956 gegründet (mittlerweile gibt es bundesweit flächendeckend insgesamt 105 TS-Stellen) und verstand und versteht sich im Ursprung als „Suizidprophylaxe-Einrichtung“. Im vergangenen Jahr habe ich mit zwei Kollegen für die TelefonSeelsorge Deutschland eine KrisenKompass-App entwickelt, die am 10.03.2020 online gegangen ist. Diese App ist nicht nur speziell für Menschen mit suizidalen Absichten, für Menschen, die jemanden kennen, der diese Absichten/Gedanken hat und wissen möchten, wie sie das ansprechen können und für Hinterbliebene nach Suizid ein mögliches Angebot, sondern auch für andere Ratsuchende, die in einer Krisensituation durch Übungen Entlastung finden möchten, sich entspannen möchten… bevor sie dann direkt die TS im Gespräch erreichen können. Die KrisenKompass-App ist kostenfrei in den App-Stores herunterladbar – und ebenfalls anonym.
Neben der Telefonseelsorge über das Telefon gibt es auch die Möglichkeit per Chat oder E-Mail Berater*innen zu kontaktieren. Was sind die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Kontaktmöglichkeiten?
Mail und Chat sind gegenüber dem telefonischen Kontakt noch anonymer. Man hört keine Stimme, und damit die Gefühle des Anrufenden direkt. Diese werden – wenn – nur schriftlich mitgeteilt. Der*die TSLer*in „erkennt“ nicht, ob Mann oder Frau, ob ein Kind oder Jugendlicher. Das erfährt der*die Online-Berater*in nur, wenn der*die Ratsuchende es selbst angibt. Manche Menschen wünschen sich diese verstärkte Anonymität. Für jüngere Menschen, die mit der Onlinetechnik groß geworden sind, und andere, die sich die Technik im Laufe ihres Lebens angeeignet haben, ist der schriftliche Austausch kein Problem. Für ältere Menschen schon. Es gibt nicht wenige Menschen, die keinen PC, kein Laptop/Tablet oder Smartphone haben. Sie können dieses Angebot nicht nutzen.
Der Unterschied zwischen Chatberatung und Telefonberatung ist gering, weil es ein direkter anonymer Kontakt ist – nur schriftlich. Über die Homepage der TS-Münster (www.telefonseelsorge-muenster.de) kommt jede*r, der*die möchte direkt auf den Chatbutton, meldet sich unter einem Nickname an und kann sich in eine Chatzeit eintragen. Wie beim Telefon, weiß der*die Ratsuchende aber nicht, wer an der anderen Seite antwortet. Wenn ein erneuter Chatkontakt gesucht wird, wird der*die Ratsuchende dann auf den*die jeweils Schichthabende TSLer*in im Chat treffen.
Das ist beim Mailen anders:
Der*die Ratsuchende meldet sich ebenfalls mit einem Nickname über den Button Mailberatung auf der Homepage der TS-Münster an. Schreibt eine Mail und schildert die eigene Situation/das Anliegen. Diese Mail wird anonym an eine*n Onlineberater*in weitergeleitet. Eine Antwort erfolgt innerhalb der nächsten 24 Stunden. Beim Mailen bleiben diese beiden dann über einen längeren Zeitraum (ggf. bis zu einem Jahr) in wöchentlichem Kontakt. Der*die Online-Berater*in wechselt nicht, d.h. es entsteht ein eigener Kommunikationsprozess. Der*die Ratsuchende kann die eigenen Mails und die Antworten des*der Online-Berater*in immer wieder nachlesen. Das ist für manche Ratsuchenden von Vorteil. Oftmals „erledigt“ sich ja ein Problem nicht nach einem einmaligen Telefonat oder nach einem Chatkontakt.
Für diejenigen, die sich einen (kurzen) direkten Kontakt wünschen, ist dagegen die Mailberatung nicht empfehlenswert. Sie ist auf einen längeren Kontakt mit der TS angelegt.
Wie hat sich die Beratung durch die Pandemie verändert? Welche Probleme nehmen zu? Welche Unterschiede gibt es bei verschiedenen Altersgruppen?
Die Beratung selbst hat sich nicht verändert. Es sind nur deutlich mehr Anrufe, Mail- und Chatanfragen geworden, z.T. bis zu 20% in der Woche. Dankenswerter Weise übernehmen die TSLer*innen in allen drei Kontaktmöglichkeiten mehr Schichten/Mail- und Chatanfragen, damit wir mehr für die Ratsuchenden da sein können. Die Pandemie stellt die TSLer*innen selbst vor eine neue Aufgabe: sie alle sind ja ebenso von der Pandemie betroffen. Das gut für sich zu klären, die Ängste und Befürchtungen, die jede*r hat und haben kann, das Leben mit Eingrenzungen durch die Corona-Regelungen der Bundesregierung etc. gut in den Supervisionsgruppen zu reflektieren, zeigt sich hier sehr wichtig. Warum? Wenn sich jede*r TSLer*in der eigenen Gefühle klar ist, kann er*sie besser bei den Gefühlen der Ratsuchenden sein. Das gilt als grundsätzliche Haltung aller TSLer*innen – auch schon vor der Pandemie. Wird nur jetzt durch die eigene (Mit-)Betroffenheit umso wichtiger.
Thematisch erleben wir in allen Beratungsformen schon eine Veränderung durch die Pandemie: die Probleme der Ratsuchenden verstärken sich wie durch ein „Brennglas“: die schon zuvor erlebt Einsamkeit wird stärker. Vielleicht hatte der eine oder andere Ratsuchende diese vor der Pandemie noch nicht so wahrhaben wollen, muss es durch die Kontaktbeschränkungen jetzt aber erleben. Gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist die Pandemie eine noch größere Herausforderung, weil Therapien nicht oder seltener stattfinden. Menschen, deren notwendige OP wiederholt verschoben wird, verzweifeln; das Zusammenleben in einer Familie oder auch als Paar wird seit langem auf die Probe gestellt, es kommt zu Konflikten; Selbstständige stehen am Rande ihrer Existenz, machen sich Sorgen um ihre Mitarbeitenden; die Nachteile des Homeoffice drücken; die Unsicherheit vor der Impfung; der Ärger über die Terminverschiebungen der Impfungen…
Die Liste ist lang. Und gleichzeitig kann ich sagen, dass die Themen sich insgesamt nicht verändert haben, sie sind „nur“ heftiger geworden. Leider. Und die mit der Pandemie verbundenen – wir nennen es – Ohnmacht, wann es denn wieder anders = besser wird. Einen Unterschied in den Altersgruppen können wir nicht feststellen, sondern es sind die jeweils altersbezogenen Sorgen und Ängste wie zuvor.
Wie kann man die Telefonseelsorge unterstützen bzw. selbst ein*e Berater*in werden?
Gerne kann man der TelefonSeelsorge Münster eine Spende zukommen lassen. Damit unterstützen Sie die weitere Aus-, Fort- und Weiterbildung der Ehrenamtlichen. Es ermöglicht uns dann z.B. die Einladung besonderer externer Referent*innen zu speziellen Themen. Oder auch für ein besonderes Dankeschön an die Ehrenamtlichen, wenn wir uns zweimal jährlich zu Festen treffen. Das kann in einer Spende genannt und festgelegt werden.
Wenn Sie selbst sich für das Ehrenamt interessieren: rufen Sie uns gerne in der Geschäftsstelle der TS-Münster an: 0251-482570 oder mailen Sie uns: info@telefonseelsorge-muenster.de
Wir werden dann zunächst ein Informations- und Kontaktgespräch mit Ihnen führen und Sie über alle weiteren Schritte informieren.
Informationen zur App KrisenKompass:
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