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Wie diskutiert eine Zivilgesellschaft?

Ein Kommentar von Karsten Schmitz, promovierter Sozialwissenschaftler, der sich seit Mitte 2019 in Münster bei “Fridays for Future” und “Scientists for Future” für mehr Klimaschutz engagiert. Als Wissenschaftler und Sprecher der AG Kommunalpolitik von S4F Münster macht er sich zur Zeit besonders Sorgen über die einseitige und unwissenschaftliche Berichterstattung in Teilen der Münsteraner Medienlandschaft.


In der vergangenen Ratsperiode hat der Rat in Münster das Ziel, dass Münster bis 2030 klimaneutral werden soll, am 11. Dezember 2019 mit breiter Mehrheit beschlossen.

Damit war klar, dass die Umsetzung dieses Ziels ein, wenn nicht sogar der zentrale Auftrag des am 13. September 2020 neugewählten Rats sein würde. Auch das Wahlergebnis am 13. September deutet klar darauf hin, dass die Bedeutung dieses Ziels für die Bürger*innen eine gewachsene Bedeutung hat. Die Parteien, die dieses Ziel konsequent(er) verfolgen, wurden gestärkt. So ist es eine logische Konsequenz, dass die Ratsmehrheit aus Grünen, SPD und VOLT mit der Verabschiedung konkreter Vorgaben begonnen hat.

Dabei hat sich in den letzten Tagen vor allem die Frage der autofreien Innenstadt zu einem „heißen Eisen“ entwickelt und zu kontroversen Debatten in der Stadtgesellschaft geführt (im Folgenden ist von einer autofreien Innenstadt die Rede, auch wenn anhand begründeter Ausnahmen wie bestimmte Lieferverkehre eigentlich eine autoarme Innenstadt gemeint ist). Beflügelt wurde die Debatte zudem durch den Rücktritt des SPD-Fraktionsvorsitzenden Mathias Kersting.

Für Verwunderung sorgt in dem Zusammenhang die Inhaltsleere, mit der die Debatte von einigen Akteur*innen geführt wird. Insbesondere von Seiten der Westfälischen Nachrichten bzw. der Münsterschen Zeitung (im Folgenden: WN/MZ; die beiden Zeitungen haben die gleiche Redaktion) wird das Thema „autofreie Innenstadt“ zu einem Angstthema gestaltet. Das beginnt mit in dieser Form unzutreffenden Überschriften wie „Grüne: Alle Parkplätze weg“. Dabei geht es hier keineswegs um eine Abschaffung aller Parkplätze, sondern darum, dass die Parkhäuser in der Innenstadt nur noch von Anwohner*innen genutzt werden können und um eine stärkere Bepreisung von Parkraum. Letztere macht gerade in Städten wie Münster durchaus Sinn, ergibt sich aber auch daraus, dass die Nutzung des Motorisierten Individualverkehrs (im Folgenden: MIV) einen Großteil des Verkehrsraums in Anspruch nimmt, ohne dafür bisher angemessen an den Kosten beteiligt zu werden.

Auf ein besonders niedriges journalistisches Niveau begibt sich die WN/MZ, namentlich ihr Redakteur Dirk Anger, aber dann in der Auseinandersetzung mit der Frage zu den ökonomischen Auswirkungen durch die autofreie Innenstadt. So schreibt er in einem Kommentar: „Mitten in der größten Krise nach dem Zweiten Weltkrieg wollen die Grünen Münsters Innenstadt mit einer dann von ihnen geführten Koalition im Rat lahm legen.“

Und etwas später im Kommentar weiter: „Während der Handel vor einer existenziellen Krise und ungewisser Zukunft steht, bemühen sich Vertreter der Grünen im Jahr 2021 ernsthaft darum, dass Münsteraner und Besucher die Altstadt nur noch so erreichen können, wie es in die Ideologie der Partei passt.

Geforderte Parkhaus-Schließungen bis 2025 sind für eine Großstadt mit mehr als 300 000 Einwohnern jedoch nicht nur realitätsfremd, sie sind vor allem wirtschafts- und arbeitsplatzgefährdend.“ (vgl. Kommentar „Ohne Rücksicht“).

Die Sorge des Arbeitsplatzabbaus und der betroffenen Menschen ist natürlich erst einmal ernst zu nehmen, wenngleich schon die Behauptung „mitten in der größten Krise“ unzutreffend ist, da die Pläne ja nicht sofort, sondern erst bis 2025 greifen sollen.

Entscheidender ist aber ein anderer Punkt. Anger stellt die Behauptung auf, dass eine autofreie Innenstadt zu einem Abbau von Arbeitsplätzen führt, liefert dafür aber keinerlei Belege. Eine Auseinandersetzung mit Erfahrungen aus der Realität führt nämlich zu einem völlig anderen Ergebnis. So führte eine autofreie Innenstadt bzw. autofreie Stadtviertel in zahlreichen Beispielen eben nicht zu einem Rückgang des Handels, sondern zu einer stärkeren Frequentierung der Innenstädte und Viertel, was dann auch zu einer Belebung des Handels führte. Dies zeigte sich etwa in Hamburg-Ottensen, Houten, Madrid, dem Times Square in New York, Pontevedra oder auf der Mariahilfer Straße in Wien. Zahlreiche dieser und vergleichbarer Beispiele führt der Journalist Jürgen Pander in seinem Spiegel-Artikel „Erst sind alle dagegen – und dann dafür“ auf.

Wer Jürgen Pander jetzt in eine klischeemäßige Ecke von MIV-Gegner*innnen stellen möchte, sollte sich mal dessen Lebenslauf durchlesen. Hier wird deutlich, dass Pander im Gegenteil ein Mensch ist, der sich durchaus stark für Autos begeistert und schwerpunktmäßig Motorjournalist ist, in dessen Vita sich unter anderem die Projektleitung von GQ Cars sowie eine journalistische Tätigkeit für die Automobilwoche findet, beides angesehene Fachzeitschriften von Automobilliebhaber*innen. Auch für viele Qualitätsmedien wie Spiegel und Zeit ist Pander als Automobilexperte tätig.

Im Gegensatz zu Dirk Anger geht er aber ideologiefrei und wissenschaftlich an die Fragestellung heran, indem er sich mit Fallbeispielen auseinandersetzt und diese auf ihren Erfolg oder Misserfolg prüft. Die meisten Menschen sind eben nicht in erster Hinsicht Autofahrer*innen, Radfahrer*innen, ÖPNV-Nutzer*innen, Fußgänger*innen etc., sondern orientieren sich an den gegebenen Möglichkeiten – und würden oft gerne mit anderen Verkehrsmitteln als dem Auto in die Stadt, nutzen aber dann doch den MIV, weil er in der derzeitigen Ausgestaltung am kostengünstigsten und bequemsten ist.

Die zahlreichen Beispiele machen deutlich, dass die meisten Menschen eine autofreie Innenstadt eben nicht mit Einschränkungen, sondern mit mehr Lebensqualität verbinden, von der dann auch der Handel profitiert, etwa indem die Menschen mehr einkaufen oder es genießen, sich in Cafés oder Restaurants niederzulassen.

Kurz: Während Pander seine Argumente auf die Auseinandersetzung mit Fallbeispielen stützt, begibt sich Anger mit seinem Kommentar auf das Niveau des Boulevardjournalismus, indem er Ängste schürt, ohne Belege zu liefern.

Die WN/MZ sollte sich ernsthaft die Frage stellen, ob dies der Stil von Journalismus ist, in dem sie auftreten will. Es wäre ein Stil, der deutlich näher an der Bild-Zeitung als am Qualitäts- oder gar Wissenschaftsjournalismus wäre, aber mit dem die WN/MZ anhand der lokalen Ausrichtung im Münsterland dann wohl eher eine Rolle wie z. B. der Express im Rheinland übernehmen könnte.

Würde sich die WN/MZ dauerhaft für einen solchen Stil entscheiden, in dem ohne Begründungen ideologiegetrieben Ängste geschürt werden, sollten sich wiederum ihre Leser*innen Gedanken machen, ob sie eine solche Zeitung möchten. Im Onlinezeitalter sind die Alternativen größer als viele auf den ersten Blick denken.

Insofern ergibt sich durch die Debatte um die Gestaltung des Ziels „Münster klimaneutral bis 2030“ und in diesem konkreten Fall anhand der Diskussion um die autofreie Innenstadt für die Münsteraner Bürger*innenschaft die übergeordnete Frage, auf welchem Niveau über die Veränderungen in der Stadt diskutiert werden soll. Lösungsorientiert-pragmatisch und mit Argumenten oder indem ideologische Fronten aufgebaut werden, ohne Belege und Beispiele zu nennen?

Dies ist eine zivilgesellschaftliche Frage, die weit über die Diskussion, wie viel Klimaschutz mit welchen Maßnahmen wir in Münster möchten, hinausgeht.

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