Die neue Rathaus-Koalition aus Bündnis 90/Die Grünen/GAL, der SPD und VOLT hat ihren Koalitionsvertrag verabschiedet. Das Programm für die nächsten fünf Jahre ist sehr ambitioniert. Schwerpunkt ist die Bekämpfung des Klimanotstandes, eine nachhaltige Entwicklung der Stadt und auf vielen Ebenen eine Inklusion von benachteiligten Gruppen in die Stadtgesellschaft. Das alles soll unter einer prekären Haushaltslage unter der Pandemie trotzdem gegenfinanziert werden, ohne die Gewerbesteuer zu erhöhen.
Wir haben die einzelnen Parteien im Rat nach ihrer Meinung gefragt. Was halten die Parteien von der neuen Koalition und dem Koalitionsvertrag?
Diese Interviews werden wir in den nächsten Tagen hier veröffentlichen.
Eigentlich wollten wir als erstes die CDU befragen, die stand aber leider nicht zu einem Gespräch zur Verfügung. So fangen wir mit der FDP an:
FDP: Autoarme Innenstadt ja, aber die Reihenfolge macht’s
SPD: Autoarme Innenstadt mit Bürger*innenbeteiligung
Die PARTEI/ÖDP: Radikaler als die Koalition erlaubt?
Tsakalidis: „Ich will dafür kämpfen, dass hier humane Strukturen einkehren“
Grüne: So gute Angebote schaffen, dass die Menschen selber aufs Auto verzichten
So will die Koalition den schon 2019 ausgerufenen Klimanotstand ernst nehmen. Die Klimaneutralität für 2030 ist erklärtes Ziel. Dazu sollen erneuerbare Energien ausgebaut, Gebäudeemissionen eingespart sowie Grünflächen erhalten und ausgebaut werden.
Das Ziel der autoarmen Innenstadt wird dabei so formuliert: „Eine weitgehend autofreie Altstadt bleibt dabei für uns ein realistisches Ziel, wobei die Erreichbarkeit für Anwohner*innen, Arbeitnehmer*innen, Gesundheitseinrichtungen oder für notwendigen Lieferverkehr weiterhin gewährleistet bleiben wird.“ Dazu soll das ÖPNV- und Radverkehrsangebot in Münster leistungsstark ausgebaut werden. Trotzdem hat das Thema bei konservativen Medien und konservativer Opposition schon hohe Wellen geschlagen.
Einen neuen Stadtteil, wie im Wahlkampf insbesondere von SPD und FDP gefordert, wird es nicht geben – neue Quartiere dagegen schon. So heißt es im Vertrag: „Wir wollen Wohnraum und öffentliche Infrastruktur in unserer wachsenden Stadt schaffen. Dazu gehören für uns Wohnraum, den sich alle leisten können“ und „neue Quartiere, in denen klimafreundliches Wohnen und Arbeiten ermöglicht“ werde.
Ebenso sollen Schulen und Kitas bedarfsgerecht und nachhaltig ausgebaut und Verwaltung und Schulen digitalisiert werden. Ein öffentliche WLAN soll geschaffen werden.
Was steht also konkret im Koalitionsvertrag drin?
1. Klimaschutz und Energiewende
Klimaschutz und Energiewende stehen bei der neuen Koalition auf Platz 1 der Agenda: So heißt es direkt am Anfang: „Wir machen Klimaschutz zum Maßstab aller Entscheidungen“.
Dazu sollen alle Beschlussvorlagen für den Stadtrat in Zukunft eine Klimafolgenabschätzung („Indikator ‚Klimarelevanz‘“) beinhalten. Damit soll die Klimaneutralität bis 2030 erreicht werden, aber auch der Weg dorthin nicht steinig fürs Klima werden: „Sondern auch auf dem Weg dahin [soll] nicht mehr CO2 ausgestoßen [werden], als Münster anteilig am weltweiten CO2-Budget, das mit dem 1,5 °C-Ziel kompatibel ist, zusteht“. Die darüber hinaus ausgestoßenen Emissionen müssen ökologisch verträglich kompensiert werden, so die Koalition.
Konkret heißt das:
- Münsters Haushalte sollen schon 2025 von den Stadtwerken zu 100 Prozent mit Ökostrom versorgt werden,
- Bis 2030 soll Münster vollständig mit selbst erzeugtem erneuerbarem Strom beliefert werden,
- über Energiegenossenschaften sollen die Bürger*innen an der Schaffung von erneuerbaren Energieträgern beteiligt werden (Solarenergie von Münsters Dächern aus),
- die Dächer neuer Wohn- und Gewerbegebiete sollen grundsätzlich mit Solarenergieanlagen ausgestattet werden, Windenergie im ländlichen Raum offensiv ausgebaut werden,
- Münster Gebäudebestand soll konsequent über ein erweitertes Förderprogramm energetisch saniert werden und hohe energetische Standards für Neubauten gelten.
2. Mobilität & Verkehr
Nicht etwa mit dem Kampf gegen den Klimanotstand führt die Koalition diese Kapitel ein. Nein, es heißt im Vertrag: „Wir wollen die Stadt wieder zu einem lebenswerten und attraktiven Aufenthalts- und Erlebnisraum machen, der für alle erreichbar bleibt.“ Das ist sehr sympathisch: So holt man die Leute da ab, wo sie sind und rettet nebenbei das Klima. Es sollen also zu Lasten des Autoverkehrs ÖPNV, Rad- und Fußgänger*innenverkehr gestärkt werden:
Konkret heißt ÖPNV stärken:
- Einrichtung von durchgehenden Busspuren auf allen Einfallstraßen,
- Mobilitätsstationen sollen errichtet werden, damit motorisierte Pendler*innen am Stadtrand auf andere Verkehrsträger wie den ÖPNV/das Fahrrad wechseln können,
- der Aufbau eines Metrobus-Systems,
- außerdem sollen die Lichtsignalanlagen Bus-freundlicher geschaltet werden.
- höhere Taktfrequenz auf den Linien,
- eine einfachere und günstige Ticketstruktur (365-Euro-Jahresticket),
- eine bessere digitale und physische Verknüpfung des ÖPNV mit weiteren Verkehrsträgern,
- Elektrifizierung der Busflotte,
- Beschleunigung des Projektes „S-Bahn Münsterland“.
Letztes ist ein großer Knackpunkt: Es ist ein essentieller Bestandteil, um die Pendler*innen aus dem Münsterland nach Münster und aus Münster ins Umland vom Auto auf die Bahn zu ziehen. Dabei ist die Koalition aber nicht nur von dem Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe, der das Projekt vorantreibt, sondern auch von der externen und sehr schwer berechenbare Partnerin, der Deutschen Bahn, abhängig.
Konkret heißt Fahrradverkehr stärken:
- die Radwegebenutzungspflicht, dazu soll die Verkehrssicherheit an den unfallträchtigsten Stellen Münsters durch eine verkehrssichere Umgestaltung erhöht werden,
- Priorisierung des Radverkehrs bei Ampelschaltungen und Kreuzungsführungen, um Zweifach-Halte an Kreuzungen zu vermeiden,
- Einbahnstraßen sollen grundsätzlich für den Radverkehr in beide Richtungen freigegeben werden,
- die Umgestaltung der Wolbecker Straße zugunsten des Fuß- und Radverkehrs soll ohne weitere Verzögerung umgesetzt werden,
- Velo-Routen gestärkt und ausgebaut werden,
- der Radverkehr an der Promenade soll an mehr Kreuzungen Vorrang vor dem Pkw-Verkehr bekommen,
- ein zweiter Promenadenring soll die äußeren Stadtteile quer verbinden,
- der Lieferverkehr soll stärker auf (Lasten-)räder setzen.
Konkret heißt Fußgänger*innenverkehr stärken:
- die Sicherheit von Schulkindern stärken,
- eine möglichst flächendeckende Einführung von Tempo 30,
- Neubauten und Neuplanungen von Straßenbereichen sollen die Belange von Kindern sowie von Menschen mit Seh- und Gehbehinderung stärker berücksichtigen,
- ein Fußverkehrsleitsystem soll nicht nur die Entfernung zu wichtigen Orten, sondern auch die durchschnittlichen Gehminuten anzeigen,
- mehr Bänke im Stadtgebiet sollen aufgestellt werden, damit Fußgänger*innen mehr pausen einlegen können.
Nicht vorgesehen ist wohl die Umgestaltung des Prinzipalmarktes und der Rothenburg in eine Fußgänger*innenzone, was wohl angesichts des zu erwartenden steigenden Radverkehrs sinnvoll wäre. Da kommen sich ja jetzt schon Fußgänger*innen und Radfahrer*innen zu oft ins Gehege.
Konkret heißt autoarme Innenstadt:
- Domplatz, Pferdegasse und Königsstraße sollen schnellstmöglich weitgehend autofrei umgestaltet werden. Das Arkadenparkhaus soll Quartiersparkhaus werden, die Aegidiistraße Fahrradstraße werden,
- in der Altstadt sollen die dort vorhandenen Parkplätze konsequent gleich bepreist werden inklusive einer „Klimapauschale“ zur Gegenfinanzierung des Ausbaus des ÖPNV, Rad- und Fußverkehrs,
- in der Altstadt sollen alle oberirdischen städtischen Parkplätze (bis auf Behindertenparkplätze) für mehr Aufenthalts- und Grünflächen umgestaltet werden,
- Der Hörster Parkplatz soll mittelfristig städtebaulich attraktiv umgestaltet werden,
- die überlastete Verkehrsachse Mauritztor-Bült-Münzstraße soll zwischen den Parkhäusern Alter Steinweg und Theater/Tibusplatz für den Pkw-Verkehr gesperrt werden und so soll die Innenstadt in dieser Richtung erweitert werden,
- der Parksuch- sowie Durchgangsverkehrs in den Quartieren soll durch Durchfahrsperren oder neue Einbahnstraßenregelungen eingeschränkt werden.
Diese Vorhaben können die Innenstadt wirklich für alle interessanter und attraktiver machen. Wenn die Koalition es dann auch schafft, dass die Innenstadt attraktiver, aber ohne Auto genau so gut bzw. besser erreichbar sein wird, als heutzutage, dann können auch die Geschäftsleute, die bisher dagegen waren, am Ende zufrieden sein. Denn: Eine interessantere und attraktivere Stadt wird auch mehr Kund*innen ziehen. Und am anderen Ende wurde dann auch noch das Klima gerettet.
3. Großprojekte
Die vier Großprojekte, die derzeit im Gespräch sind, werden wohl alle kommen oder weitergeführt:
- Der umstrittene Hafenmarkt wird kommen, da die SPD mit konservativer Opposition das Projekt anstoßen darf. Der Koalitionszwang ist in diesem Punkt für die SPD aufgehoben worden.
- Das Preußenstadion wird an alter Stelle, an der Hammer Straße, neu gebaut. Und zwar Zweitliga-tauglich mit einer Betriebskapazität von 20.000 Zuschauer*innen. Die Koalition hat dies aber mit einem Orientierungsrahmen bei 40 Millionen Euro gedeckelt. Davon ausgenommen sind aber ökologische Mehrkosten, Kosten für eventuelle Altlastenentsorgung und eine klimafreundliche Anbindung. Auto-Parkplätze werden im Übrigen nicht gestrichen.
- Der Flughafen Münster-Osnabrück (FMO) hat schon die Corona-Hilfen bewilligt bekommen. Die städtischen Zuschüsse für den FMO werden auch bis 2023 fließen. Solange also, bis diese kommunalen Zuschüsse sowieso europarechtlich verboten werden. Es soll aber ein wissenschaftliches, wirklich unabhängiges Gutachten die Zukunftsfähigkeit des Flughafens eingeholt werden und dann ein Zukunftskonzept entwickelt werden. Dabei sollen Konzepte mit und ohne Flugverkehr diskutiert werden und es soll über ein „Innovationszentrum für klimaverträglichen Flugverkehr“ in einem Teil des zu groß gebauten Terminals nachgedacht werden.
- Der Musik-Campus soll grundsätzlich gebaut werden, steht aber unter Finanzierungsvorbehalt. Eventuell wird sich die Koalition dafür einsetzten, dass die Stadt nicht Bauherrin wird, sondern Mieterin. Wichtig ist der Koalition dabei, dass der Musik-Campus nicht zu Lasten der freien Kulturszene finanziert wird.
4. Stadtplanung, Bauen und Wohnen
Die Koalition sieht einen Zielkonflikt zwischen „Schutz der Natur und Freiflächen“ auf der einen Seite und Beheben des Wohnungsmangels auf der anderen Seite. Dies will die Koalition lösen, indem in Münster zwar nachverdichtet wird, allerdings platzsparend und verkehrsarm. Ökologisch wertvolle Nischen sollen erhalten bleiben. Neue Quartiere sollen auch geschaffen werden, aber ganze neue Stadtteile stehen nicht auf der Agenda der Koalition.
Neue Quartiere sollen „Quartiere der kurzen Wege“ werden. Das heißt, es soll bei der Planung von neuen Quartieren darauf geachtet werden, dass sie gut an Fuß-, Rad- und Bahnverkehrswege angebunden sind. Gebaut werden soll klimagerecht und die Quartiere mit erneuerbarer Energie ausgestattet werden. Die Quartiere sollen alters- und sozial-gemischte Quartiere werden. In den neuen Quartieren sollen „Mehrwohnungsgebäude dominieren“, um den bestehenden, extremen Mangel an Mietwohnungen zu beheben. Die Koalition setzt also keine Prioritäten auf den Bau von Eigenheimen, schließt aber eine gewisse Anzahl von Eigenheimen nicht aus.
Damit neuer und preiswerter Wohnraum „so viel und so schnell wie möglich“ geschaffen wird, soll den städtischen Wohnungsgesellschaften bis 2025 Eigenkapital in Höhe von 50 Millionen Euro zugeschossen werden. Die Konversionsgesellschaft „KonvOY“, die bisher für die Entwicklung der Quartiere York- und Oxford-Kaserne gebildet wurde, soll zu einer kommunalen Entwicklungsgesellschaft weiterentwickeln werden. Städtische Grundstücke sollen nicht weiterverkauft werden, sondern in Erbbau verpachtet werden. Genossenschaftliche Wohnformen sollen dabei vorrangig unterstützt werden. Die Sozialgerechte Bodennutzung Münster (SoBoMü), die schon unter Schwarz-Grün eingeführt wurde, soll weiterentwickelt werden.
Die Rieselfelder sollen als „bedeutendes Europareservat“ weiterentwickelt und der Aasee ökologisch saniert werden.
In der landwirtschaftlichen Flächennutzung soll Münster die Einstufung als „Modellregion Ökolandbau“ anstreben. Dafür sollen bei der Verpachtung landwirtschaftlicher Flächen der Stadt bevorzugt Betriebe des ökologischen Landbaus und solidarische Formen kreislauforientierter Landwirtschaft berücksichtigt werden.
5. Weitere Vorhaben
Die Stadt soll eigene Gebäude klimagerecht bauen und sanieren. Dabei soll trotzdem kostenbewusst und bedarfsgerecht geplant werden.
Gemeinwohlökonomie soll in Münster gestärkt und Förderprogramme aufgelegt werden, die Münsteraner Unternehmen dabei unterstützen, eine Gemeinwohlbilanz zu erstellen. Ein „Wertschöpfungszentrum mit Verankerung in den Stadtteilen“ soll regionale Verarbeitungs- und Vermarktungsstrukturen sowie ein vielfältiges regionales Lebensmittelhandwerk unterstützen.
Die Innenstadt und großen Einkaufsstraßen sollen unterstützt werden, indem auf eine viel stärkere Durchmischung unterschiedlicher Nutzungen gesetzt wird. Neben dem Einzelhandel sollen kleine Gewerbe- und Handwerksbetriebe, soziale Einrichtungen, Kunst und Kultur, Verleihstationen und Begegnungszentren die Menschen in die Innenstadt und Stadtteil-Zentren locken. Ebenso soll der Einzelhandel durch eine neue ökologische Logistik (Lieferkonzepte, Cargobikes, Mikrodepots) unterstützen werden.
Die soziale Teilhabe soll für alle sichergestellt werden. So soll es einen Notfonds für Menschen in sozialen Notlagen geben, bei Hartz-IV-Empfänger*innen möglichst keine Sanktionen und der Münster-Pass soll für wirtschaftlich schwache Menschen erweitert werden. Die Hilfen für Wohnungslose sollen ausgebaut werden. Quartiersstützpunkte sollen möglichst in jedem Stadtviertel etabliert werden. Selbstbestimmtes Leben im Alter und eine humane Pflege in Selbstbestimmung sollen gesichert werden.
Der Arbeitsmarkt soll inklusiv gestaltet werden und neue Arbeitsplätze in den Bereichen Energiewende, Klimaschutz, gemeinwohlorientierter Wohnungsbau, Gesundheitsförderung und Pflege geschaffen werden. Dazu soll ein gemeinwohlorientierter Bürgerfonds aufgelegt werden.
Viel Wert legt der Koalitionsvertrag auf die Gleichstellung der Geschlechter in der Münsteraner Gesellschaft und der Stadtverwaltung. Ebenso sollen Menschen mit Migrationsvorgeschichte in der Gesellschaft und der Stadtverwaltung gleichgestellt werden. Das Projekt Münster als „Sicherer Hafen“ soll gestärkt werden. Statt auf Abschiebungen soll die Stadtverwaltung auf Integration setzen.
Einschätzung
Das Programm, was sich die Koalition vorgenommen hat, ist ambitioniert. Wie viel davon am Ende umgesetzt werden konnte, wird sich zeigen, denn: Alles steht unter einem Finanzierungsvorbehalt. In und nach der Pandemie wird der städtische Haushalt nicht viel Spielraum lassen. Wenn man den Koalitionsvertrag liest, irritiert, dass die Schaffung von Geschlechtergerechtigkeit durch den ganzen Koalitionsvertrag zieht, aber die Integration von Menschen mit Migrationsvorgeschichte nur ein kleines, eigenes Kapitel bekommen hat und sonst nur noch einmal im Kapitel Personal vorkommt. Ebenso setzt die Koalition zwar nach eigenem Bekunden einen Schwerpunkt auf die Digitalisierung der Stadt, das dazugehörige Kapitel wirkt allerdings sehr kurz.
Die größte Herausforderung wird aber sein, den*die Bürger*in bei der Umgestaltung der Innenstadt in eine autoarme Zone mitzunehmen. Dazu müssen wirklich erst die alternativen Angebote geschaffen werden und anschließend nach und nach die Autozonen eingeschränkt werden. Auch wenn der Autor selbst für eine autofreie Innenstadt sofort zu haben wäre!
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