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TGTBATB #2 – Struktur des NRW-Bürgerfernsehens

In The Good, the Bad and the Bürgermedien berichte ich aus dem Herzen der nordrhein-westfälischen Bürgermedienszene (in Fachkreisen als „Münster“ bekannt). Im Jahre 2016 werden Bürgermedien vielerorts (Quelle: Hörensagen) als angestaubtes Relikt betrachtet, sofern der Betrachtende überhaupt eine Meinung zu Bürgermedien hat. Was waren Bürgermedien und was sind sie? Was wollen sie sein und wo wollen sie hin? Eine garantiert verfärbte und voreingenommene Einsicht in diese und viele weitere Fragestellungen, die euch spätestens nach der Lektüre interessieren werden.

Logo von The Good, the Bad and the Bürgermedien

Teil 2 – Struktur des NRW-Bürgerfernsehens

Wow: 2016! Wie die Zeit vergeht. Fast zwanzig Jahre ist es her, seit das Bürgerfernsehen nach Münster kam. Im Herbst 1997 wurde „tv münster“ geboren und mit ihm zahlreiche Redaktionsgruppen, TV-Magazine, Karrieren, Freundschaften, Beziehungen und Säuglinge. Ohne die Unternehmung einiger weniger Menschen, das Bürgerfernsehen nach Münster zu holen, wäre das Leben hunderter anderer Menschen in den folgenden Jahren anders verlaufen. Ist das nicht ein verrückter Gedanke?

Es ist vor allem ein pathetischer Gedanke, klar. Aber manchmal braucht es eine Prise Pathos, um über die Daten und Zahlen und Geldsummen hinaus ein Gefühl für die Entwicklungen und Leistungen zu erhalten, die in den vergangen Jahrzehnten die Bürgermedien geprägt haben. Nicht nur in Münster, sondern in ganz Nordrhein-Westfalen.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf fällt es vielleicht leichter, den Konflikt nachzuvollziehen, der sich seit vielen Jahren innerhalb der hiesigen Förderstrukturen abspielt und im zweiten Teil von TGTBATB eine prominente Rolle einnimmt. Denn was gut ist und was schlecht und vielleicht auch hässlich, ist auch an dieser Stelle vor allem eine Frage der Perspektive.

Two maps, one thought

Das Prinzip der allmählichen Öffnung ist Video- und Filmemachern geläufig: Ausgehend von einem Detail öffnen wir die Szene durch weitere Einstellungsgrößen: Vom Detail, über die Halbnahe bis zur Totalen. Ein einfaches Mittel, um einen kleinen und flüssigen Erzählstrang zu schaffen.

Unsere Reise in die Tiefen des NRW-Bürgerfernsehens möchte ich daher mit einer Grafik beginnen, die mir vor einigen Jahren das erste Mal begegnet ist und auch heute noch in LfM-Publikationen verwendet wird. Diese Grafik ist aufregend, weil sie auf den ersten Blick eine niederschmetternde Eindeutigkeit vermittelt, die kein gesunder Menschenverstand abstreiten könnte:

Vergleich der Bürgerfernsehen-Struktur vor und nach nrwision
Vergleich der Bürgerfernsehen-Struktur vor und nach nrwision
Aus dem LfM-Medienkompetenzbericht 2014/2015, ISBN: 978-3-940929-41-9, S. 101

Liebe Leserinnen und Leser, selbst wenn ihr niemals ein fortgeschrittenes BWL-Statistikseminar bei Walter Krämer besucht habt, dürfte euch eine Ungereimtheit unmittelbar ins Auge springen: Das Wörtchen „früher“. Da die beiden Karten gemeinsam aufgeführt werden, soll offensichtlich eine Vergleichssituation geschaffen werden. Aber welche Zeitpunkte bilden die Karten ab? Während wir auf der rechten Seite einen Erfassungsstand erhalten, heißt es links eben salopp: früher.

Was die Verantwortlichen davon abhielt, auf der linken Karte den 31.10.2008 festzuhalten, weiß ich nicht. Jedenfalls ist das der letzte Tag, an dem sich die dort abgebildeten Einrichtungen noch allesamt im Sendebetrieb befanden. Spätestens am 01.01.09 wurde dann fast allen OK-Zuschauer/innen vor den heimischen Geräten klar: Das war’s.


Quelle: “reiereiersilberstern” bei photobucket.com.

Wir halten fest: Auf der linken Seite sehen wir den Zustand des Bürgerfernsehens in NRW Ende 2008, auf der rechten Seite sehen wir den Stand vom 01.06.2014, also ca. fünf Jahre nachdem nrwision am 01.07.2009 den Sendebetrieb aufnahm. Hier wird eine Unterteilung in vor Christusvor nrwision und nach nrwision vorgenommen. Was ist nun aber mit „Zustand des Bürgerfernsehens“ gemeint? Im Medienkompetenzbericht wird die Grafik zum Abschluss des Bürgerfernsehen-Kapitels aufgeführt. Ist sie also ein Fazit? Ist die gewünschte Interpretation, dass das Bürgerfernsehen v. n. aus 9 roten Punkten und fünf Jahre n. n. aus 106 roten Punkten und einem großen grauen Punkt besteht?

Ihr seht: Um eine Antwort zu erhalten, müssen wir verstehen, was die roten Punkte bedeuten. Was sagt die Legende?

Legende der TV-Vergleichskarten aus dem LfM-Medienkompetenzbericht 2014/15

Okay. Undeutlicher kann es natürlich nicht sein. Ihr wisst, dass die Definition der Bürgermedien eine heikle Angelegenheit und häufig kontextgebunden ist. Was bedeutet „Bürgerfernsehen“ also an dieser Stelle? Aufschluss gibt eine Grafik, die im Medienkompetenzbericht bereits einige Seiten zuvor eingepflegt ist:

Stand des NRW-Bürgerfernsehens im August 2015
Stand des NRW-Bürgerfernsehens im August 2015
Aus dem LfM-Medienkompetenzbericht 2014/2015, ISBN: 978-3-940929-41-9, S. 97

Der Legende entnehmen wir folgende Zuordnung für die einzelnen Farbpunkte:

Farbe
Förderung/Einrichtung
Anzahl
Blau Förderung von Qualifizierungsmaßnahmen 29
Grün Lern- und Lehrredaktionen 19
Gelb Schnupperkurs „Unser Ort“ 80
Orange Unabhängige Zulieferer 42
Lila Professionelle Medienausbildung 9
Grau nrwision 1
180

Macht inklusive nrwision ganze 180 Punkte auf der NRW-Karte. In unserer Vergleichsgrafik vom 01.06.2014 sind es insgesamt 107 Punkte. Die Diskrepanz entsteht durch das Zusammenfassen von Punkten an Ballungsorten. In Münster gibt es z.B. auf der 2014er-Karte einen roten Punkt, der aufgeschlüsselt auf der 2015er-Karte zu sechs Punkten wird.

Es wird also deutlich: In unserer 2014er-Karte repräsentieren die Punkte Orte, an denen Bürgerfernsehprodukte entstehen oder mal entstanden sind. Während die 2015er-Karte verrät, wie viele Einzelpersonen, Gruppierungen oder Einrichtungen unter welchen Umständen Produkte hergestellt haben.

Nun, da wir wissen, wofür die roten Punkte auf der rechten Seite unserer Vergleichsgrafik stehen, stellt sich die Frage, was sie auf der linken Seite bedeuten?

Aus einem Land vor meiner Zeit

Die Gnade der späten Geburt, fehlendes Marketing oder später Zuzug: Es gibt viele vorstellbare Gründe, wieso der Begriff des Offenen Kanals in nordrhein-westfälischen Köpfen nichts klingeln lässt. Das war in Städten, in denen es die Kanäle gab, anders. Es ist dieses beinah in Vergessenheit geratene Zeitalter, das die linke Karte abbildet.

Ein Offener Kanal ist in der Regel eine Einrichtung, die Radio- und Fernsehprogramm lokal oder regional ausstrahlt und deren Inhalte von ggf. vor Ort qualifizierten Bürgerinnen und Bürgern (die nicht unbedingt Psychopathen, Propheten und Chaoten sein müssen) beigesteuert werden; entweder in organisierten Redaktionsgruppen oder auch durch Einzelnutzer, die unabhängig produzieren und ihre Produkte autark zuliefern. Der eigentliche Zweck der Offenen Kanäle wurde von der „Expertengruppe Offener Kanal“, die Ende der 70er Jahre zusammenfand und über die ich an anderer Stelle ausführlicher berichten werde, wie folgt umschrieben:

Der Offene Kanal bezweckt die Erprobung und Entwicklung neuer Kommunikationsformen auf lokaler und regionaler Ebene und deren Auswirkung auf das kulturelle und soziale Leben sowie auf die kommunikative Kompetenz der Beteiligten. Er ist als zeitlich befristetes Experiment angelegt.

aus: Der Offene Kanal. Kriterien für ein Bürgermedium, Schriftenreihe der Bundeszentrale fur Politische Bildung (Hrsg.), Band 164, 1980.

In Nordrhein-Westfalen entstand der erste Offene Kanal bereits 1985 in Dortmund, damals noch unter WDR-Trägerschaft. Andere Standorte folgten diesem Beispiel. Natürlich aus unterschiedlichen Gründen und von unterschiedlichen Visionen angetrieben. Die roten Punkte auf der Karte stehen für diese ehemaligen Vereine und Offenen Kanäle¹:

  • Arbeitsgemeinschaft Offener Kanal Paderborn e.V. (Offener Kanal Paderborn)
  • Bürgerfernsehen Offener Kanal e.V. (BOK in Marl)
  • Offener Bürgerkanal Münster e.V. (tv münster)
  • Offener Kanal Bielefeld e.V. (Kanal 21)
  • Offener Kanal Dortmund e.V. (floriantv)
  • Offener Kanal Essen e.V. (OK43)
  • Offener Kanal Hamm e.V. (Offener Kanal Hamm)
  • Offener Kanal Lüdenscheid e.V. (Bürgerfernsehen Meinerzhagen²)
  • Offener Kanal Tudorf e.V. (Tudorfer Kabelfernsehen tkf ok)

Wofür stehen diese Offenen Kanäle? Diese Frage ist für jemanden wie mich, der das Schiff genau in dem Moment betrat, als es auf Meeresgrund traf (Februar 2009), gar nicht so einfach zu beantworten. Zu viele Jahre sind vergangen, in denen nicht viel öffentlich archiviert wurde, was über Sendeinhalte hinausging. Die meisten OK-Strukturen haben sich aufgelöst, nicht einmal mehr Homepages oder eigene Wikipedia-Einträge erinnern an ihre Existenz. Ohne den glücklichen oder weitsichtig vorbereiteten Zustand nachhaltiger Strukturen an vereinzelten Orten wie Bielefeld würde heute fast nichts an fünfundzwanzig Jahre OK-Geschichte erinnern.

Eine besondere Studie zu den Offenen Kanälen gibt allerdings Aufschluss darüber, welchen Umfang die Kanäle tatsächlich besaßen: Die „Organisations- und Programmanalyse“ unter dem Titel „Bürgerfernsehen in Nordrhein-Westfalen“, herausgegeben von Prof. Dr. Helmut Volpers³ und Prof. Dr. Petra Werner und erschienen in der LfM-Schriftenreihe Medienforschung, wartet mit Zahlen auf:

Der Offene TV-Kanal Bielefeld nennt sich Kanal 21 (im Untertitel „Das Bielefelder Bürgerfernsehen“). Die Bezeichnung Kanal 21 steht zum einen für den Sonderkanal 21, womit die Verbreitungsfrequenz aller Offenen Kanäle in NRW gemeint ist, und zum anderen – in die Zukunft gerichtet – für das 21. Jahrhundert. Sendestart war am 17. 11. 2005. Im Kanal 21 arbeiten 34 Redaktionsgruppen sowie 56 Einzelnutzer. (S. 101)

[…]

Das Bürgerfernsehen in Lüdenscheid firmiert nicht unter dem Namen Offener Kanal Lüdenscheid, sondern ist im Programm als „Bürgerfernsehen Meinerzhagen“ ausgewiesen. Im Untersuchungszeitraum wurden 14 Redaktionsgruppen registriert (mit insgesamt 53 Mitgliedern). (S. 124)

[…]

Das Bürgerfernsehen in Münster hat den Trägerverein Offener Bürgerkanal Münster e.V. (OBK), und sein Programm firmiert unter tv münster. Dieser Offene Kanal ging im Oktober 1997 auf Sendung. Im Untersuchungszeitraum waren 33 Redaktionsgruppen und 13 Einzelnutzer im OK Münster registriert. (S. 133)

[…]

Der Offene Kanal in Paderborn firmiert offiziell als Arbeitsgemeinschaft Offener Kanal Paderborn. Die Zweitbezeichnung TV OWL Life findet ebenfalls Verwendung. Sendestart für den OK Paderborn war im November 1997. Im OK Paderborn sind 27 Redaktionsgruppen tätig (S. 137)

alle aus: Bürgerfernsehen in Nordrhein-Westfalen: Eine Organisations- und Programmanalyse, Schriftenreihe Medienforschung der LfM, Band 56, Helmut Volpers, Petra Werner (Hrsg.), ISBN: ISBN 978-3-89158-453-8

Die Studie lief über einen Zeitraum von 12 Monaten und wurde im Dezember 2006 abgeschlossen. Vor gut zehn Jahren waren also bei uns im Bennohaus noch 33 Redaktionsgruppen aktiv. Nun ist Redaktionsgruppe nicht gleich Redaktionsgruppe und über die Regelmäßigkeit von Zusammenkünften und die Qualität von Produktionen gibt diese Zahl keinen Aufschluss. Gepaart mit all den anderen Zahlen ergibt sie dennoch ein Bild, das dem Unkundigen mit Blick auf die Vergleichsgrafik verborgen bleibt: Neun rote Punkte, neun eingefärbte Kreise auf einer NRW-Karte. Und wofür stehen sie? Für 202 Redaktionsgruppen (die Studie selbst spricht von 175 aktiven) und über 200 Einzelnutzer. Und all dem, was dahintersteckt.

Beide Karten zusammengenommen stellen also die Schwerpunkte der beiden Fördermodelle nicht akkurat dar. Mir ist schleierhaft, wie so viele rote Pünktchen ohne qualitative Gewichtung gesetzt werden können. Ein zweitägiger Schnupperkurs in Harsewinkel besitzt im Rahmen dieser Grafik denselben Wert wie ein Fernsehsender mit über dreißig aktiven Redaktionsgruppen, die qualifiziert werden und jährlich mehrere Stunden Programm produzieren! Wer auf diese Art und Weise vergleicht, täuscht und möchte die Legitimation seiner Lösung mit künstlich kreierter Quantität anreichern. Das hat die Lösung doch gar nicht nötig!

Denn sie verfolgt schlicht eine andere Idee als das Modell der Offenen Kanäle. Eine Idee, für die es natürlich auch nachvollziehbare Argumente gibt.

Modellbaukasten

Warum baut dieser Text überhaupt auf einer Grafik auf, die ich selbst für irreführend halte?

Weil sie (wenn denn dann mal entschlüsselt) Sinnbild dessen ist, was das Bürgerfernsehen in NRW, seine (ehemaligen) Aktiven und seine Förderer umtreibt: Worauf kommt es uns an? Was wollen wir damit? Fragen, die unterschiedlich beantwortet werden und nach verschiedenen Lösungen schreien.

Die heutigen Bürgerfernsehstrukturen sind das Ergebnis eines Zentralisierungsbestrebens, das mit der Einstellung der Förderung von Offenen Kanälen begann und mit der Inbetriebnahme von nrwision auf den Weg gebracht wurde. Dem entgegen steht das dezentrale Modell vor 2009.

Es mag euch Leserinnen und Lesern angesichts der vielen rote Punkte auf der rechten Karte zunächst absurd anmuten, hier von Zentralisierung zu sprechen. Aber versucht dabei die geschilderten Hintergründe in Betracht zu ziehen: In einer Zeit vor nrwision gab es sieben (ich klammere Lüdenscheid und Tudorf aufgrund ihrer Größe einmal aus) Standorte mit einem eigenen Kabelfernsehbetrieb, mit eigenen Redaktionsgruppen, mit fortgebildeten Medientrainer/innen, mit zahlreichen Qualifizierungsmaßnahmen, Auszubildenden und professioneller Produktionstechnik. Sie waren Anlaufstellen vor Ort mit Beratungs- und Bildungsfunktion. Im Laufe der Jahre kamen unterschiedliche Förderaufträge hinzu, z.B. das Erproben neuer Verbreitungswege oder die Herstellung lokaler Medienkompetenznetzwerke.

NRW verfügte über ein vereinsgetragenes Fördermodell, es musste also stets ein eingetragener Verein gegründet werden, der dann als eine von der LfM lizenzierte Arbeitsgemeinschaft Fördergelder erhalten konnte. Die Sockelfinanzierung jeder einzelnen Arbeitsgemeinschaft bestand aus

  • Mitteln für die Grundausstattung (um z.B. Sendeabwicklung und Produktionstechnik zu finanzieren)
  • der Zahlung von Leitungsgebühren (um das Fernsehsignal in das Kabelnetz einzuspeisen)
  • und der Übernahme von Betriebskosten (um z.B. das Personal zu finanzieren)

Welche Summe jeder Offene Kanal dabei erhielt, wurde abhängig von der Anzahl der Einwohner im Verbreitungsgebiet und der technischen Reichweite gemacht. Der OK Münster fiel z.B. in die Kategorie B, was eine maximale Sockelfinanzierung von knapp 38.000 Euro im Jahr ermöglichte. Weitere Gelder konnten die Offenen Kanäle für die Durchführung von Qualifizierungsmaßnahmen und tiefergehende Schwerpunktförderungen (z.B. den Kinderkanal in Münster) erhalten. Ein Offener Kanal mit breitem Angebot in einem attraktiven Verbreitungsgebiet konnte auf diesem Wege Fördersummen im niedrigen sechsstelligen Bereich umsetzen:

Fördergeldtabelle für einen Offenen Kanal der Kategorie B
Aus dem Entwicklungsplan III der LfM für das NRW-Bürgerfernsehen, 2003-2007, S. 10


Ihr seht: Hier wurde tatsächlich über viele Jahre hinweg sehr viel Geld in die Hand genommen, um über NRW verteilt Bürgerfernseheinrichtungen zu unterstützen. Eine Beurteilung der inhaltlichen Arbeit der Offenen Kanäle ist ein umstrittenes Thema und damalige OK-Aktive teilten die Interpretation und einige Schlussfolgerungen der Volpers-Studie nicht, die letztlich eine wichtige Rolle in der Umgestaltung des Systems spielte. Ob die Offenen Kanäle ein Auslaufmodell waren, ist eine Frage ohne richtige Antwort: Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht? Der Blick hinüber in andere Bundesländer, in denen weiterhin Offene Kanäle betrieben werden, mag Hinweise geben. Aber wer weiß schon, was in unserem Bundesland unter anderen Umständen wirklich passiert wäre?

Das Modell, das 2009 Einzug fand, räumte mit dem Gedanken auf, Infrastruktur dezentral zu fördern. Viele der Funktionen der ehemaligen Offenen Kanäle füllte der neugegründete Lernsender an der TU Dortmund aus. Tatsächlich fand also eine Verschiebung der Vor-Ort-Medienkompetenzzentren in einen einzelnen Sender statt. Den meisten ehemaligen Offenen Kanälen ging zwar 2009 der Sendebetrieb flöten, aber die geschaffenen Strukturen waren weiterhin vorhanden. Viele von ihnen nutzten daher die Möglichkeit, Fördergelder für Qualifizierungsmaßnahmen zu beantragen. Und tun das bis heute – wir zum Beispiel (vgl. blauer Punkt in Münster auf der 2015er-Karte). Der große Nachteil daran: Im Gegensatz zur stabilen und sicheren Förderung früherer Zeiten ist das Beantragen der Gelder ein fortlaufendes Hoffen auf nicht allzu hohe Kürzungen. Der Pool an Geldern ist begrenzt – ein einziger Antrag, der nicht die erhoffte Fördersumme ermöglicht, kann die Strukturen vor Ort mit einem Schlag lahmlegen. Es ist nicht verwunderlich, dass viele ehemalige Offene Kanäle verschwunden sind.

Im neuen Modell wurden weitere Ideen umgesetzt: So erhielten Bildungseinrichtungen wie Universitäten und Schulen die Möglichkeit, sogenannte Lern- und Lehrredaktionen umzusetzen. Mit Hilfe einer Anschubförderung kann dabei das entsprechende Equipment angeschafft werden. Viele Campus-TV-Sendungen, die ihr heute bei nrwision sehen könnt, sind auf diesem Wege entstanden, z.B. Augen auf!. Neu hinzu kam auch die Idee der Schnupperkurse. Im Rahmen dieser Förderung können Vereine sehr unbürokratisch einen solchen Kurs für sich beantragen. Sie sorgen dann dafür, dass ausreichend Teilnehmende und Räumlichkeiten vorhanden sind, die LfM selbst stellt Medientrainer/innen und Produktionstechnik.

Das neue Modell sieht also einen Sender im Mittelpunkt aller Aktivitäten vor, der all die im Rahmen der Förderungen entstehenden Produkte ausstrahlt und selbst in der professionellen Journalismus-Ausbildung verankert ist, um Synergieeffekte zu schaffen. Gestreut ist in diesem Modell also nicht die Infrastruktur, sondern der Wissenstransfer, der in jeder noch so kleinen Ortschaft stattfinden kann.

Letzten Endes ist es also eine Frage der Ideologie: Wohin soll das Bürgerfernsehen gehen?

Mehrere Fernseheinrichtungen vor Ort, die nachhaltige Strukturen bieten und ein lokales Programm im lokalen Raum ausstrahlen?

Oder ein einzelner Sender, der das lokale/regionale Programm in ganz NRW ausstrahlt mit starker Streuung punktueller Maßnahmen?

Meister, warum heißen Deutschländer eigentlich Deutschländer?

Das Heil in den Werbetexten der 90er zu suchen ist nicht der naheliegende Weg. Aber mir gefällt der Ansatz, aus verschiedenen Konzepten gelungene Elemente zusammenzuführen. (Habe mir allerdings angelesen, dass Deutschländer nur Matschepampe sein sollen.)

Wie soll sie also aussehen, die ideale Zukunft des Bürgerfernsehens? Ich habe natürlich eine Wunschvorstellung, die selbstverständlich von meinen Erfahrungen hier in Münster geprägt ist. Aber auch von Eindrücken aus anderen Städten in NRW, in anderen Bundesländern und den Gedanken daran, dass eine kleine, mit unterschiedlichen Zielen arbeitende Szene das eigentliche Problem der Zukunft – die Legitimation von Bürgermedien im Rahmen der aktuellen Medienlandschaft – mit Sicherheit nicht lösen kann.

Ich glaube nicht, dass eine Wiedereinführung der Offenen Kanäle exakt nach altem Modell zielführend wäre. Sehr wohl sollte ein Blick auf den eigentlichen Verlust geworfen werden, den der Wegfall von Offenen Kanälen nach sich zog. Oftmals wird der OK als Sender definiert. Viel wichtiger scheint mir aber seine Funktion als sozialer Treffpunkt, als Service- und Beratungszentrum, als Wiedergeber lokaler Themen, als Ort der praktischen Medienbildung mit persönlichem Feedback. All diese Aufgaben kann nrwision nur teilweise oder gar nicht erfüllen, was nicht zuletzt am veränderten Auftrag des Senders liegt, und ganz bestimmt auf die banale Tatsache zurückzuführen ist, dass Nordrhein-Westfalen als eines von dreizehn Flächenländern in diesem Sinne niemals zentral versorgt werden kann. Die Idee bringt mich auch nach vielen Jahren noch zum Schmunzeln: Lasst uns einen landesweiten Fernsehsender in einem der größten Bundesländer schaffen, der vor allem Lokalberichte ausstrahlt!

Zitat von Gernot Schumann aus einer Werbebroschüre von tv münster

Schnipsel aus einer der ersten tv-münster-Werbebroschüren

Natürlich kann gegenargumentiert werden, dass solche Vor-Ort-Angebote nicht zeitgemäß sind oder keine Nachfrage mehr erleben, wobei wir zweitgenanntes aufgrund unserer Nutzungszahlen ausschließen können. In der Tat ist genau dies eines der Argumente, das zur jetzigen Förderstruktur und den gesprenkelten Angeboten geführt hat. Partizipation bedeutet in dieser Gedankenwelt eben nicht, dass Menschen direkt vor Ort lernen und produzieren und sich äußern. Es gibt das Internet, es gibt nrwision und es gibt ja die Möglichkeit, einen Schnupperkurs zu besuchen und danach zu sehen, was sich ergibt.

Das ist für mich keine befriedigende Gedankenwelt. Weil sie für mich zum einen darauf hinarbeitet, Qualifizierung kurzfristig, punktuell und damit nicht in meinem Sinne nachhaltig zu denken. Und weil sie zum anderen sehr viel Wert auf einen Fernsehsender legt, dessen Erfolg nur schwer zu bemessen ist. Angesichts dessen, was kommerzielle Angebote und Services im Internet jetzt schon bieten, ist in diesem Szenario die Sinnhaftigkeit einer solchen Unternehmung zurecht in Zweifel zu ziehen. Ich glaube, so schaffen wir uns ab.


Viel sinniger scheint es mir, die Stärken des Bürgerfernsehens und ein flächendeckendes Angebot gleichermaßen zu fördern. Ein Ansatz, der im Bürgerradio mit den Servicestellen Bürgerfunk zwar in der Praxis nicht ideal umgesetzt ist, aber in der Theorie schon die richtige Richtung einschlägt. Statt wie im Radio in über vierzig Verbreitungsgebieten zu denken, bietet es sich im Fernsehen aufgrund seiner sehr viel teureren Strukturen an, Regionen zu fördern: Ostwestfalen, Münsterland, Ruhrgebiet etc. Hier können Zentren entstehen, die einen Sendeplatz im digitalen Kabelnetz mit lokaler Reichweite erhalten (was für mich ein Kann-Kriterium sein sollte – denn wie viel Wahrnehmung und Mehrwert hierdurch generiert wird, kann meines Erachtens niemand beurteilen. Die Sinnhaftigkeit ist also nur mit Hoffnungen zu unterfüttern) und ihre Produktionen gleichzeitig an nrwision oder die neu entstehende Bürgermedienplattform liefern.

Ihr Schwerpunkt läge auf der Qualifizierung von Bürgerinnen und Bürger, also auf Ausbildung, Fortbildung, Weiterbildung. Sie bieten Redaktionsgruppen an und unterstützen vor Ort bei der Schaffung weiterer Redaktionsgruppen. Sie versorgen ihre Umgebung mit Wissen und Technik. Sie kooperieren mit lokalen Bildungseinrichtungen wie Schulen. Sie werden in die Medienausbildung von Lehrerinnen und Lehrern eingebunden. Sie bilden ein zusammenhängendes Netzwerk in NRW. Und das alles auf Basis einer zugesicherten Sockelfinanzierung, die sorgenfreies Planen ermöglicht. In diesem Modell bliebe nrwision als Sender bestehen, dessen Programmierung ggf. nach Berliner Vorbild überarbeitet werden kann, um den Aufbau einer größeren Zuschauerschaft zu ermöglichen. Gleichzeitig können von der LfM qualifizierte Medientrainer/innen ausschwärmen und Vor-Ort-Kurse durchführen, die, wenn möglich, auch mal länger als zwei Tage dauern dürfen und aktiv die regionalen Zentren bewerben.

Träumen ist ja immer noch erlaubt. Und meinen Traum finde ich ganz gut.


In der nächsten Ausgabe von TGTBATB werfe ich einen Blick auf die geplante Bürgermedienplattform NRW.


1: In memoriam: Offene Kanäle Borgentreich, Duisburg, Hopsten und Meckenheim
2: Es ist kompliziert.
3: Auch für den Bürgerfunk wurde eine solche Studie angefertigt. Beide werden noch heute gern als Volpers-Studie bezeichnet
4: Kategorie A: Dortmund und Essen

Jan Leye

Ehemaliger Chefredakteur.

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